Nachtfahrt

 

 

Blutrot sinkt der Sonnenklumpen ins Meer.

Kutter schlingern sanft in der schützenden Bucht, hinter'm Deich.

Der Fang ist verladen. Fischer stapfen heimwärts.

In Gassen toben Kinder. Nicht viel später sind auch sie in geduckten

Häusern verschwunden.

Stille weit und breit. Lange, rotschwarze Schatten. Der letzte Fetzen

schwachen Lichts zieht seewärts, wo es der Horizont schluckt.

Im Dorf, gleich hinter der Hafenschleuse, tritt ein schmächtiger 

Mann vor die Haustür. Er gibt der Filzkappe mit aufgenähtem An-

ker einen Fingerstoß und schlappt los. Kühle Luft umflirrt ihn. Sei-

ne Hose flattert vogelgleich. Die Holzkloben bollern weit hörbar.

Der Mann ist alt - sein krummer Rücken, der schleppende Gang, 

verraten es auf den ersten Blick. Er hat Fusel intus - nicht mehr als 

sonst und nicht weniger - das hat er weitesgehend im Griff. In den

Augen des Alten nistet Scheu - er wirkt abweisend und trägt den-

noch ein unbestimmtes Gefühl von Glück in sich - ein selig machen-

des Gefühl freudiger Erwartung...

Mit sich selbst redend, gelangt er zur Deichkrone. Sein schneller A-

tem beruhigt sich. Der Hafen bietet Schutz und Trost. So ist es im-

mer um die Zeit: andere Leute schwatzen munter in ihren Stuben;

erzählen vom Tag; was morgen sein wird, oder heute war - und er

schweigt die Abende an, faselt vor sich hin: scheinbar wirres Zeugs.

Hier sitzt er nun- auf der Laderampe am Kai; fahndet nach der Pfei-

fe in seiner Manteltasche; stopft sie, knipst das Gasfeuerzeug an, mit 

zittrigen, tentakelartigen Fingern; raucht, redet, schimpft sogar 

mitunter, um im nächsten Augenblick wieder störrischem Schweigen 

zu fröhnen. Währenddessen tasten sich die Blicke seiner tränenden

Augen unermüdlich durch die Dunkelheit.

Keiner da. Das lässt ihn zufriedener werden und aus krausen Gedan-

ken werden abermals Worte. Eher Genuschel. Ist nicht wichtig, daß

ihn irgendjemand versteht.

Ist der Kerl verrückt?

Kann sein. Genau genommen nicht verschrobener, als andere sei-

nes Alters. Die Leute im Dorf rufen ihn Hotte. Hotte, der Kauz...

Ihm egal, wie sie ihn nennen, solange sie ihn in Ruhe seine nächtli-

che Runde gehn lassen.

Während er raucht, gleitet die freie, linke Hand in die Beule der an-

deren Manteltasche. Die halb geleerte Schnapsflasche, darin, wird 

bald ganz leer sein. Doch Hotte wird dann noch lange nicht am Ende

klaren Verstands sein. Er kann ‘ne Menge ab. Ist die Buddel leer,

schwankt er zwar leicht hin - und her; rülpst auch schon mal; ki-

chert, brabbelt Unverständliches, oder pöbelt vorbeihastende Nach-

zügler an. Doch sonst ist er ein netter Kerl.

Heute abend ist alles anders. Er lässt die Finger vom Schnaps: rülpst,

pöbelt nicht. Er spürt, daß in dieser Nacht Entscheidendes passieren

wird: daß heran kriechende Nebel Großartiges mitbringen werden...

Darum bewahrt er kühlen Kopf; lässt den Alkohol beiseite und hält

sich mit leisem Gesang und klarer werdenden Selbstgesprächen bei 

Laune.

 

Aus Abend wird Nacht. 

Tintenschwärze sperrt jedes Licht im Hafen aus. Bootsmasten klap-

pern. Jaulend streunen Katzen umher. Hotte hebt eine von ihnen in

den Schoß. Das Gejaul verstummt. > Siehste, geht doch...<

Sie kennen sich, die Beiden - sind sich ähnlich - Katze und Mensch.

Beide sind Nachtschwärmer.

Während das Tier unter seinen Händen einschläft, starrt Hotte fast 

unablässig raus, Richtung offenes Meer.

 

Eine Stunde vergeht.

Zwei.

Er hört den Wind flüstern; hört Wellen schlagen; spürt auch das 

lauter werdende Trommeln in der Brust. Trotzdem wird ihm der

Kopf schwerer und sackt schließlich vornüber.

Ehe ihn die Müdigkeit völlig mattsetzt, vernimmt er ein leises Knar-

ren, ganz aus der Nähe - und ist augenblicklich hellwach!

Schnell setzt er die Katze zu Boden; verpasst ihr einen sanften Tritt.

Das Tier will weiterdösen; am liebsten natürlich in Hottes’ warmen

Schoß - also bleibt es stehen, wo es steht - direkt vor seinen Füßen.

Ihm gefällt das garnicht. Er hat wahrlich Wichtigeres zu tun.

> Hau schon ab!, < schnauzt er ohne wirklichen Groll. Die Katze 

stimmt wieder das herzzerfetzende Wimmern an. Er zögert, ver-

sucht es mit eher zahnlosen  Drohungen. > Nicht abhaun heißt: 

kein Fischfutter mehr. Ab sofort und bis in alle Ewigkeit! <

Der nächste Tritt. Genauso harmlos.

> Und nun mach dich vom Acker! <

Macht sie nicht.

Also schnappt er nach ihr, packt sie sich auf die Schulter und zieht

los, Richtung Schleuse.

Oben, im Schleusenturm, sind längst alle Lichter aus. Sicherheits-

halber späht Hotte nochmal in die Runde, blickt auf die Uhr am 

Handgelenk. Kurz vor elf Uhr. Um die Zeit ist hier tote Hose. Wa-

rum sollte das heute anders sein? 

Ist es... Alles ist anders. Nichts ist, wie in den Nächten vorher - und 

das beunruhigt ihn - macht ihm auch etwas Angst.

Schon bald wird er wissen, daß die beginnende Unruhe berechtigt 

ist. Die Angst aber nicht....

 

Unsichtbar: die Hände, die ihn sicher durch düstre Einsamkeit, ans

Ziel führen... Zunächst schreckt er zurück, als er den sanften Druck

jener feuchten Hände spürt. Dann aber wird ihm bewusst, dass sie 

weder leichenkalt, noch irgendwie fremd sind - sondern warm und

vertraut. Und er folgt willig in die tiefe Schwärze. Sein Puls - gera-

de noch rasend - beruhigt sich. Die suchenden Augen weiten sich. 

In seinen Mundwinkeln wartet das erste, wirkliche Lachen.

Sie steigen die Eisenstufen zum Turm hoch. Er glaubt Schritte von

wenigstens zwei Menschen zu hören - seitwärts und die vorneweg.

Auch diese Tatsache nimmt er relativ gelassen hin. Was zählt, ist 

der Weg ans Ziel - und das kommt immer näher...

Mehrmals muß er anhalten, weil die Puste knapp wird. 

Er schleppt sich weiter.

Endlich oben angekommen, stößt er an eine rostzerfressene Tür. 

Zu.

Es rasselt im Schloß... Wer gab ihm den Schlüssel? Will er garnicht

wissen. Sicher ist, dass der Schlüssel plötzlich in seiner Hand ist -

und den legte jemand da hinein.

Er wirft den Riegel um - ohne jede Mühe. Die Tür knirscht und rap-

pelt, als wolle sie unter keinen Umständen nachgeben. Doch der alte 

Mann bahnt sich unbeirrt seinen Weg: rauf, zur Aussichtsplattform.

Die Hände, die ihn hierhin führten, ruhen nun sachte auf seinen

Schultern - genau da, wo eben noch die Katze kauerte. Neugierig 

nimmt die derweil den knarzenden Vorsprung, dicht vorm Abgrund,

in Besitz; tappt noch weiter vor; jault leise, streckt sich; lässt sich 

erst nieder, als Hotte brummelnd auf einen Schemel im Innern sinkt

und sein Rauchzeug rauskramt.

 

Ist noch Zeit. Also wartet er und denkt nach...Bald ist dieses Leben

zu Ende: bald wird ein neues beginnen...Er wird hier ausharren: froh

und seltsam heiter gestimmt, bis...bis die Umrisse eines etwa dreißig

Meter hohen Kolosses aus der Finsternis auftauchen; der mächtige

Schoner, der beinah jede Nacht durch seine Träume gleitet; völlig

lautlos...Dem er winkt, den er ruft, aber niemals erreicht. Der Gi-

gant fährt weiter. Ohne ihn. Und er steht weinend am Ufer - bereit,

sein traurig gewordenes Leben für das Unerreichbare hinzugeben.

 

Der Mond reisst die Nebelwolken auf. Sein Licht fällt geradewegs

in den bedrohlich wirkenden Schleusenturm - nur dahin. In diese 

Lichtschneise schiebt sich langsam ein riesiger Schatten - so furcht-

erregend, als könne er Wasser, Himmel und Erde teilen!

Die Umrisse des Monstrums gleichen denen seiner Träume auf’s

Haar genau...Masten werden sichtbar. Steil ragen sie in schwindeln-

de Höhen auf, als würden sie an Wolken kratzen. An den Flanken 

faustdicke Seile; bereit, zum Festmachen. Bugseitig stehen Gestal-

ten. Oder sind es nur armselige Vogelscheuchen, die sich nicht rüh-

ren können und zum Stillstehen verdammt sind...?

Das Meer, hinter der Schleuse, steigt höher - jenes Wühlen und Ru-

moren im gleißenden Licht ist einzig und göttlich schön.

Es ist gekommen - sein Schiff - er weiß es. Jetzt ist es nur noch ei-

nen Steinwurf entfernt, und er wird es diesmal nicht wieder aus den

Augen verlieren. Lange genug trieb es ohne ihn auf allen Meeren..!

 

Offenbar ohne jede Führung stoppt der Schoner vor der Hafenein-

fahrt. Schnell kurbelt der alte Mann im Turm die Einfahrt auf. Der

Schoner gleitet in flacheres Wasser. An der Kaimauer stirbt das ge-

waltige Rauschen. Und dann wird es still. Ganz still.

Hotte kneift die Augen. Die Gestalten an Deck sind verschwunden.

Im Führerstand brennt keine Lampe. Jetzt erkennt er auch, daß der

Hauptmast mittlings gebrochen ist. Kein Anker rasselt; keine Men-

schenseele hebt den Arm zum Gruß. Nur Schlick glitscht zischend

an Tauen und Rahen. Überall Seegras; mal schwarz und nassglän-

zend; mal dörr von Sonne, Wind und Zeit. 

In der hölzernen Rumpfhaut klaffen breite Risse. Sicher haben der-

einst grausame Stürme getobt und den Schoner leck geschlagen. Ein

Wunder, daß er überhaupt noch manövrierfähig ist.

Alles Leben an Bord scheint erloschen zu sein - so unerbittlich, wie 

das Licht des heutigen Tages.

Ausgeträumt.Vorbei. Alle Träume umsonst. Er will nicht wahrhaben,

was er sieht...Ist denn tatsächlich niemand auf dem Schiff? Gerade

waren da oben doch Leute zu sehn...!

Er stürmt die Treppen hinab. 

Unten angekommen, stürzt er sich blindlings in die ölige Hafenbrü-

he. Er taucht unter; schluckt Schmutzwasser, kämpft sich weiter, bis

er die Heckseite des Schoners erreicht. Er greift nach einem mor-

schen Seil, das ihn gerade noch aushält, und erst reisst, als er siche-

ren Boden unter den Füßen hat. Dann erst reisst der Strick; ohne je-

de Last - einfach so - als solle es sein, daß nur noch dieser eine Mann 

an Bord kommt.

Der Blick des Alten irrt die Reling lang; irrt auch über's lange Hinter-

deck. Sein Atem pfeift. Er ruft Namen.

Zuerst geschieht nichts. Garnichts.

Doch dann - ganz zaghaft, regen sich dünne, kaum hörbare Stimmen.

Geisterleise wehen sie ans Ufer.

Der Mond zieht sich hinter Nebelwolken zurück; nimmt sein Licht 

mit. Zuletzt sind schemenhaft Männer an Bord zu erkennen, die sich

umarmen.... Drei, vier Gestalten. Und es werden immer mehr...

Freunde, vielleicht. Weggefährten.

Der alte Mann ist voll des Glücks. Er ist angekommen.

Wer will darüber richten, ob er verrückt ist, oder sich das alles nur

einbildet? Er steht fest mit beiden Beinen auf diesem Schiff; alles ist

klar und deutlich zu erkennen - wiederzuerkennen. Nur das ist wich-

tig.

 

Bevor sie ablegen, holen sie die Katze an Bord.

Wieder das ohrenbetäubende Brodeln und Zischen.

Der Koloss sucht sich seinen Weg.

Wohin sie wohl fahren werden?

Irgendwohin.

Wer weiß.

 

 

2.

Tagelang kein Lebenszeichen des Alten. 

An Hottes Haustür stapeln sich Zeitungen.

Die Leute im Dorf erzählen sich, daß der Alte neulich Nacht sturzbe-

soffen ins Hafenbecken stürzte, und ertrank. Gesehen hat es keiner.

Aber gehört.

Was Leute so alles hören.

 

 

3.

In jenen Tagen treibt ein faul gewordenes Holzbrett hafenauswärts.

An sich nichts Ungewöhnliches. Dreck und Treibgut sammeln sich

hier zuhauf. Doch dieses Brett da ist nicht einfach nur Abfall, sagt

sich der humpelnde Schleusenwärter, der sich das gute Stück genau-

er ansieht. Und als er die blasse Inschrift liest, befällt ihn ein hefti-

ges Jucken am Hinterkopf.

 

Sehnsucht

 

Nachdenklich schlappt er die Treppenstufen zum Turm rauf; immer

wieder das morsche Brett betrachtend. Schweiss überschwemmt ihn -

nicht nur wegen des mühsamen Aufstiegs. Oben, die Tür zum Aus-

kuck, steht sperrangelweit offen. Er wundert sich ebenfalls über die

Pfeife auf dem dreibeinigen Schemel. Die grauweißgefleckte Katze,

die ihm jeden Morgen zur Begrüßung um die Beine streicht, vermiss-

te er schon unten, vor dem Aufstieg. Eigentlich gehört die Mulle ihm.

Er hat so eine Ahnung, daß sie nie wieder um seine Beine schleichen 

wird.

Aber das Brett in seinen Händen gibt ihm noch größere Rätsel auf...

Die ‘Sehnsucht’ sank hier, vor der Küste, im Sturm. Dabei kamen

zwanzig Seeleute um. Die Alten erzählen sich immer mal wieder,

dass ein einziger Matrose das Unglück überlebte und sich an Land

retten konnte. Ist auch kein Geheimnis, dass sie den alten Hotte mei-

nen. Genau der ist seit Tagen wie vom Erdboden verschluckt. > Und

das hier ist wohl sein letzter Gruß...?, < murrt der Wärter vor sich

hin.

Ausgiebiges Kratzen am borstigen Schädel. 

> Kann ja nicht sein, daß der Kerl mit dem ollen Pott mit ist...Wie

lang´ ist das denn schon her, daß die ‘Sehnsucht’ auf Grund ist? <

Das Jucken an seinem Hinterkopf wird zur echten Plage.

> Über fünfzig Jahre ist das her...! <

 

 

(c) Ralph Bruse

     Christine

       Ralph

       Heike

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