Bis an die Grenze

 

Ein Tatsachenbericht

von

Ralph Bruse

 

 

Teil 2

 

 

 

Januar 198o.
Wismar. Beethovenstraße 22.
 
Paps sitzt nackt im Hausflur. Und die Saß, vom zweiten Stock,
macht ein Riesentheater. > Da sind Sie ja endlich!, < kräht sie schon
von Weitem. > Ihr Herr Vater...da oben, auf der Treppe, hockt er! <
Bin gelassen; sage: > Jaja. <
Papas Macken sind fast schon Gewohnheit. Mal schlappt er orien-
tierungslos in der Gegend rum, oder krakehlt im Hausflur. Leichte
Schizoschübe. Wenn es ihm besser geht, sitzt er brav im Stübchen;
pafft, glotzt fern und freut sich wie ein Schneekönig des Lebens.
Die Schizophasen kommen aus heiterem Himmel. Dann ist Paps
nicht mehr er selbst - erst euphorisch; im nächsten Moment zu Tode
betrübt. Kann man nicht viel machen, sagen die Ärzte. Erst Nerven-
zusammenbruch; dann Gelbsucht. Bis hierhin heilbar - doch es kam
noch schlimmer. Hirnhautentzündung. Dazu ‘ne harmlose Grippe.
Die riss Lücken in seinen Verstand. Seitdem ist es aus, mit echter
Entscheidungsfreiheit. Paps hat sich verändert, ohne daß er selbst
was merkte. Für mich ist er derselbe, aber nicht für die Leute im
und außer Haus. Null Toleranz - die Arschgeigen.

Nun hockt er also wieder nackt im Hausflur.
Halb so wild.
Die Saß sieht das anders; giftet: > Ich will, daß Sie ihren Herrn Va-
ter dahin zurückbringen, wo er herkommt. Und wo er auch hinge-
hört! Das Schamgefühl der Leute verletzen. Pfui deiwel! <
Ich war gerade so schön gelassen...Aber jetzt könnt’ ich explodieren!
> ‘n nackter Mann. Na und. Gucken se halt weg...<
> So geht's jedenfalls nicht!, < fängt die Leier von vorn an. > Ist ja
widerlich, der Anblick! <
Widerlich? Die tickt ja nicht richtig. Würde der am liebsten in den
fetten Arsch treten, oder wenigstens übel beleidigen; und zwar so,
daß ihr Schamgefühl garantiert verletzt ist - halte mich aber zurück.
Ein langer Arbeitstag liegt hinter mir. Bin geschlaucht und außer-
dem auf Bewährung raus. Ein falscher Mucks, und ich sitze wieder
im Knast. Drei Monate haben sie mir geschenkt. Nicht ville bei drei
Jahren Bewährung; doch besser als nichts. Seit zwei Wochen wohne
ich bei Paps. Als ich entlassen wurde, war er nicht da; hockte schon
in der Psychiatrischen. Die wollten ihn erst nicht rauslassen; warn-
ten mich, daß er öfter mal ausflippt.
Mir doch egal. Hab denen nur versprechen müssen, mich ordentlich
um ihn zu kümmern. Offenbar sind die froh um jeden, der wieder
verschwindet. Noch ‘ne Unterschrift. Das war’s.
Er hat mich sofort wiedererkannt. Der Rest zählte nicht. >Also hopp,
Papa, < hab ich gesagt.> Sattel die Hühner; wir reiten nach Haus'! <
Happy waren wir - er, genauso wie ich. Zuallererst haben wir einen
Kneipenbummel gemacht. Papa kippt die Biere, und ich Limo.
Nach dem dritten Bier ist Schluss für ihn. Hackevoll nach drei Bier.
Er verträgt nichts mehr. Früher waren schon morgens drei Bier in
seinem Bauch. Keinerlei Beschwerden; nur angenehm duhn.
Früher ist vorbei. Kann ihm das Saufen nicht verbieten; will auch
nicht mehr. Der Suff machte ihn kaputt; und ich war zu lange im
Knast, um es zu stoppen. War weg, als er abstürzte. Schlechtes Ge-
wissen?...Nee. Wußte ja von nichts. Post kam nie von ihm - und
falls doch, haben die Aufpasser alle Briefe verschwinden lassen.
Ahnungen gab es; klar. Doch Ahnen heisst schließlich nicht wissen.
Schluß mit dem Gejammer! Paps hat ‘ne Meise, und ich sorge für
ihn - und wenn die Saß nicht gleich ihr Schandmaul hält, gibts ‘ne
Retourkutsche, von der sie sich so schnell nicht erholt...!
Der Hausfrieden hält eh nicht lange, weil die Trulla immer Gründe
zum Motzen findet. Trotzdem verspreche ich: > Kommt nicht wie-
der vor. <
Einstweilen beruhigt sich die Saß - zieht Leine. Und ich ziehe die
Treppe rauf. Auf eine der letzten Stufen hoppeln mir Kartoffeln
entgegen.
Nichts von Bedeutung. Neulich krachte unser komplettes Geschirr
in die Tiefe. Das war wesentlich lauter, und teurer sowieso, wegen
der Neuanschaffung. Habe Paps angebrüllt; doch der saß nur da
und grinste sich eins. Ein Aussetzer von vielen.
Abends sah er wieder klar; entschuldigte sich herzzerfetzend. Die
Entschuldigung nahm ich an; wie überhaupt alles, was er im Wahn
verzapfte.
 
Dritter Stock. Paps weint wie ein Kleinkind; schubst Kartoffeln
hin - und her. Mir ist auch nach Weinen. Hocke mich dazu, und wir
heulen ‘ne Runde zusammen.
Später ist er müde; sackt vornüber.
Fange ihn auf und trage den Lallenden in die Wohnung.
Gerade will ich mich ebenfalls zur Ruhe legen, da richtet er sich
plötzlich auf und lacht, daß die Wände wackeln.
> Ha! Die Gabi war schon ‘n dolles Mädel, ne?! Die geh ich morgen
besuchen. Gleich moin früh! <
Gähnen. > Ja, mach das, Papa.<
Er beugt sich rüber; stößt mich an.
> Sag ma’, die Gabi kennste doch, ne?... Feines Mädel. <
> Jo, nett. Schlaf, Papa.<
> Jo, nett. Was is’n dat für ‘ne Antwort. Kannst dat nich’ freundli-
cher sagen?! <
> Bin müde. War’n langer Tag, Papa.<
> Na gut, Schlafmütze. Aber moin geh ich die Gabi besuchen!
Nacht, Jung’. <
> Nacht. <
 
Am Frühstückstisch liegt er mir schon wieder mit seiner Gabi in
den Ohren. Und nach Feierabend geht das so weiter. Allein traut
er sich dann doch nicht auf die Straße, obwohl er das an besseren
Tagen sehr gut kann. Nur diesmal klappt es eben nicht. Letzte Nacht
hatte er einen Schreianfall; bekam Angstschübe und Fieber. Aus-
gerechnet jetzt, wo doch die Sache mit Gabi steigen soll! Nach Pha-
sen, wie der, letzte Nacht, hängt er meist tagelang down in der düs-
teren Bude, weil ihm vor dem Tageslicht graut...Also nichts ist mit
Gabi. Übermorgen hat Paps Geburtstag. Bis dahin ist er garantiert
außer Gefecht.
Ich weiß auch schon, was jener treudoofe Dackelblick, am Vorabend
seines Geburtstags, bedeutet...Hol mir das Mädel her, wenn ich schon
nicht selber hin kann!
Okay, Nervensäge. Ich spreche mit deiner Gabi. Nur: gib mir später
nicht die Schuld, wenn sie einen Schreck kriegt, dich so zu sehn,
oder garnicht erst kommt.
 
Mittwoch, nach Feierabend, stapfe ich los; zur Werft.
Der Pförtner will mich nicht reinlassen, weil ich nicht mehr in dem
Laden arbeite. Zwei Kollegen von Paps erkennen mich; schnauzen
den Blödi von einem Pförtner an. > Dat is’ der Junge vom Dieter,
Mann! Hat doch als Lehrling hier rabottet, Mann! < Und deutlich
unaufgeregter: > Wat macht er denn so, der Vatter? <
> Na ja, < weiche ich aus.
Viel Zeit haben sie nicht; winken ab.
> Laß ma’. War jedenfalls ‘n super Kumpel, der Dieter...<
War? Der redet, als ob Paps schon unter der Erde liegt.
> ‘n super Kumpel isser immer noch!, < sage ich verärgert. > Und
er würde sich bestimmt freu'n, wenn ihr ihn mal besuchen kommt! <
> Inner Klapse? <
> Nee, bei uns zu Haus. <
> Ach so. Ja, naja, äh. Ma’ sehn, ne?, < druckst einer der Beiden he-
rum. Plötzlich sind die lieben Kollegen furchtbar in Eile; geben Hac-
kengas.
> Tschüssi! Und sag deinem Ollen schöne Grüße, ne? <
Winkewinke. Weg sind sie.
Naja, äh, ma’ sehn....soll wohl heißen: nee, lieber nicht. Paps hat
‘nen Dachschaden. Mit Dösbatteln ist irgendwie schwer auszukom-
men; ist schon klar.
Sei’s drum. Immerhin haben mich die beiden auf’s Werftgelände
geschleust. Kenne mich hier noch gut aus.
Halle 5.
Gabi sitzt nicht in ihrem Kran. > Is’ inner Kantine!, < brüllt ein öl-
verschmierter Kollege gegen den Maschinenlärm an.
Die Kantine ist rappelvoll. Kein Wunder; ist ja Mittagszeit.
Da drüben sitzt sie!
Schnappe mir ein Tablett und kriege für ein schönes Lächeln von
der dicken Mamsell, hinter der Ausgabe, ein üppiges Mahl.
Nochmal lächeln - sie lächelt zurück; fragt: > Bist du nich’ der Jun-
ge vom Dieter? ...Armer Kerl, der. Sag ma’, warst du nich’ im Bau?
Komm her, krist ‘n extra Schnitzel.<
Sie schiebt die dicken Arme vor; packt mit der linken Hand das
zweite Schnitzel drauf, und strubbelt mit der Rechten in meinem
borstenkurzen Haar.
> Sag dem Dieter, daß er ruhich mal zum Futtern vorbeikommen
soll. Kostet nix. <
Mach ich. Danke, dicke Fee.
Abmarsch, Richtung Ecktisch.
Drei Männer leisten Gabi schon Gesellschaft. Ich klau mir den
Stuhl vom Nebentisch, der nur frei wurde, weil der Besitzer gerade
Nachschlag holt.
Gabi ist einigermaßen überrascht; auch wegen der zwei Schnitzel
auf meinem Teller.
> Hast der Trudi Zucker um die Schnut' geschmiert, ne? Schiet, daß
ich bei der nich’ so nett schmier'n kann...<
Ihr Lachen ist gleichgeblieben - laut und ansteckend.
Sie schubst ihren Nebenmann. > Mach ma’ Platz, Hannes. Hast eh
schon den halben Tisch in Beschlach! <
Die große Klappe ist auch noch dieselbe. Brauch sie auch, um im
Männerbetrieb Oberwasser zu halten.
Ich hab Hunger; lange erstmal tüchtig hin.
Gabi ist satt; sieht mir beim Essen zu. Sie raucht Filterlose. Zwei
hintereinander. Der Qualm nebelt mich ein. Leute einnebeln - das
machte ihr früher schon Spaß. Meistens saß dann Paps mit am
Tisch. Der konnte das ab; raucht ja selber wie ein Schlot. Beide ha-
ben sich prächtig amüsiert, wenn der Tisch freiblieb, weil sie feste
um die Wette qualmten. > Anständich sind andre Weiber...,< sagte
Gabi öfter. Der Satz gefiel Paps - und nicht nur der. Er fing Feuer.
Vier Jahre waren sie zusammen. Dann schnappte ihm der geile Jörg
aus der Schlosserei beim Betriebsfest glatt die Traumfrau weg. Der
Jörg ist zwar ein geiler Trottel, aber dafür deutlich größer und stär-
ker, als Paps. Drauf gepfiffen; ich war zuerst da, sagte sich Paps und
schlug dem Trottel was auf's Maul.
Sein Pech, daß der Widersacher das locker wegsteckte und um so
doller zurückschlug. Paps sah ganz schön vermatscht aus; lag zwei
volle Wochen flach. Gabi spielte die Krankenschwester; und als der
Kranke sich schon besser bewegen konnte, bewegte sich auch wieder
was, in punkto Sex.
Von da an kam Gabi abwechselnd zu Papa und Jörg. Ziemlich ab-
gebrüht; aber wie sagte sie noch? > Anständich sind and're Weiber.<
Wo sie recht hat, hat sie recht. Jedenfalls litt Paps wie ein Köter in
China. Notgedrungen sah er schließlich doch ein: lieber die ‘halbe
Gabi’, als garkeine. Allerdings frage ich mich, warum er die Gabi
als feines Mädel betitelt? Ist der noch zu retten?!
Es kann nur drei plausible Antworten geben. Erstens: er liebt sie,
trotz allem, wie blöde. Zweitens: sie hält ihn zum Narren. Drittens:
er ist ein Narr.
Bloß nicht den Teufel an die Wand malen. Nackter Mann auf der
Treppe ist schon eigenartig, muß aber nichts bedeuten. Paps wird
wieder gesund, und wenn Gabi mitzieht - umso besser.
 
Sie blickt zur Kantinenuhr. Die Männer brechen auf. Darauf hat sie
gewartet, denn sofort erschiesst sie mich mit Fragen.
> War’s schlimm im Knast? <
> Ging so. Du, Gabi, ich wollt mal fragen, ob du...<
Sie hakt nach.
> Republikflucht...Hört sich total bescheuert an. War bestimmt ganz
schön Schliff im Bau, oder? Haben die euch auch verkloppt? <
Bin wegen Paps hier, nicht um über die letzten vierzehn Monate zu
reden. Trotzdem - ich will was von ihr, also muß ich notgedrungen
antworten.
> Ab und zu. Meistens haben wir uns untereinander gekloppt. <
> Wieso das denn? <
> Hierarchie. Rangordnung. Neue und Schwache war’n da die letz-
ten Heuler. Tucken... <
> Tucken?  Kenn ich nich’. <
> Jungs für alles. Die wurden an Stärkere verkauft, und gefi... <
Gleich kommen mir die Schnitzel hoch.
> ‘n Recke biste ja nich’ grade, < meint Gabi. > Haben die dich etwa
auch...? <
> Einmal. Beinah. Mex is’ dazwischengegangen. <
> Oh Wunder. ‘n Freund im Knast? <
> Kam gut klar, mit Mex. Hab meine Pakete mit ihm geteilt. Des-
halb hat er mich beschützt. <
Ihr Hals wird länger.
> Beschützt? Sag ma', hast du da unter Affen gehaust?! <
Keine Antwort. Sie rückt ihren Stuhl näher; sagt leiser: > Willste
denn nochmal abhaun? <
Mußte ja kommen, die Frage.
> Zur Zeit nicht. Wegen Paps. <
> Wo wohnste jetzt? <
> Bei ihm. Beethovenstraße. <
Sie wuschelt die ‘Kopfbürste’.
> Wenn's dir mal zu bunt wird, kommste einfach für ‘n paar Stun-
den zu mir, okay? Weißt ja, wo ich wohn’. <
> Und Jörg? Sagt der nichts? <
Sie lehnt sich lässig zurück.
> Jörg...Was soll der schon sagen. Meistens isser ‘n Stiller, und
sonst ‘n ganz Stiller. Wenn der mal mehr als zwei Sätze sagt, grenzt
das ja schon an Geschwätzigkeit. Nee, wegen Jörg mußte dir wirklich
kein' Kopp machen. <
> Lass ma’, < winke ich ab. > Bin sowieso bald weg...<
> Also doch. Und dein oller Herr? <
> Kommt mit. Muß ihn nur erst wieder fit kriegen. <
> Na denn, viel Glück dabei. <
Ich frage, ob sie was von Briefen weiß, die Paps mir in den Knast
schickte?
> Versucht hat er’s. Mit ‘nem Lineal, damit die Schrift nich’ so doll
wackelt. Klappte aber nich’. Er hat geheult, wie ‘ne Suse; hier, im
Betrieb. Und denn haben wir ihn immer öfter nach Haus geschleppt,
weil er dudelduhn war...Stasitypen war'n auch mal da; haben wie
Trüffelschweine auf der Werft rumgeschnüffelt. <
Sie kichert.
> Nur war hier nix zu schnüffeln. So blöd sind wir auch wieder
nich’, daß wir den Dieter in die Pfanne hau'n, weil Sohnemann die
Fliege macht. Kann er ja nix für...Später, wie er den ersten Nerven-
zusammenbruch hatte, kamen die Arschlöcher sowieso nich’ mehr
an ihn ran... <
Mir ist schlecht. Könnte mich auf der Stelle hinlegen - Augen zu -
vergessen.
> Bist groggy, ne? <
> Ja, ziemlich. <
> Komm her. Na los, komm. <
Ich rücke ihr auf die Pelle; presse den Kopf an ihren Bauch. Schön
warm, der Bauch. Und weich.
Im Saal pfeift einer; ruft: > Gabi und ihr Neuer. Aber hallo! <
Sie schleudert die Gabel hinter sich.
> Schnauze halten, klaar?! <
Kein anständiges Mädel. Aber Klassefrau. Tut gut, sich bei ihr aus-
zuheulen.
 
Sie will kommen. Am Freitag.
Paps ist total aus dem Häuschen; lebt richtig auf.
Ich muß noch schnell Sekt und Gläser besorgen, weil die alten stau-
big und nicht gut genug sind. > Für Gabi nur das Beste!, < meint er.
> Und bring noch was zu Knabbern mit! <
Sklaventreiber, der. Bin ja schon unterwegs.
 

Freitagmorgen.
Paps hat sich in Schale geworfen; trägt seinen besten Anzug; dazu
Schlips. Ich bin skeptisch. > Viel zu spießich, Papa. Auf Männer mit
Schlips stand Gabi noch nie. <
> Meinste? <
> Mein’ ich nich’. Weiß ich. <
> Na denn, Schlaumeier. Weg damit! <
> Wieso biste denn jetzt schon geschniegelt?, < will ich wissen.
> Sie kommt doch erst heut’ nachmittag. <
Seine Antwort ist merkwürdig; leuchtet aber nach längerem Über-
legen ein.
> Muß noch Karten besorgen, für heut’ abend. <
> Was für Karten? <
> Schwan’see. <
> Schwanensee? Mein lieber Schwan. Seit wann gehste denn ins
Theater? <
> Seit heut’!, < meint er leicht gereizt.
Von mir aus...Vatter, der Kulturbanause, lädt ins Theater ein. Fragt
sich nur, ob Gabi da mitmacht.
Ich schmiere Pausenbrote und sage mir: wird schon schiefgehn.
Noch einen Schluck Tee. > Muß los, Papa. Tschüß, und toi, toi, toi!<
Er lacht - doch das Lachen gefällt mir irgendwie nicht...Muß mir
auch nicht gefallen. Paps lacht; also ist er happy, wie lange nicht.
Unten, auf der Straße, sehe ich ihn am Fenster stehn. Ein alter Mann
mit weissem Haar. Er winkt. Ich winke zurück. Alles wird gut. Hof-
fentlich.
 

Die Arbeit im Schlachthof wurde mir zugewiesen.
Ein Traumjob ist das wahrlich nicht. Im Arbeitsvertrag steht
schwarz auf weiss ‘Knochenzerbrecher’.
Was so einer macht? Na, Knochen zerbrechen; ist doch klar. Oder
besser: Knochen zersägen. Hier die Kreissäge - da Berge aus stin-
kigen Tierknochen - und ich mittendrin. Los gehts...Markknochen
in die linke Lore; Brühknochen in die rechte. Immer fleißig klein-
sägen, daß es zischt und knirscht. Das Knochenmark fliegt mir um
die Ohren. Stickige Luft. Lange Tage. Beklage mich dennoch nicht.
Bin allein in der Knochenbude. Keiner quatscht mir rein.
Jeder Doofe kapiert die Arbeit schnell. Okay, es stinkt abartig. Acht
Stunden Sägen bringen dich auch nicht auf schönere Gedanken. Ich
betrachte den Job als Mittel zum Zweck; verdiene nicht schlecht und
kann auch schon mal dösend das Erforderliche tun. Allerdings darf
das nicht ausufern, denn sonst ist sssssst...ein Finger weniger an
den Händen.
Ungefähr alle zwei Stunden taucht jemand von nebenan auf, um
die Loren zu holen. Das Mark von Schweine - und Rinderknochen
verarbeitet er zu Schmalz. Nebenan riecht's auch nicht besser. Über-
haupt mufft hier jeder ein bisschen vor sich hin. Das merkt man be-
sonders in den Pausen. Einmal schnuppern; schon weiß man, wer in
welche Abteilung gehört. Der beissende Geruch meiner Arbeitskla-
motten törnt die Leute im Betrieb offenbar mehr, als üblich, ab.
Meistens sitze ich allein am Tisch. Manchmal bleiben sogar die Ne-
bentische frei. Kann schon sein, daß ich nach Kadaver stinke. Kann
auch sein, daß mich keiner so richtig mag, weil ich im Knast war,
nicht gern drüber rede und auch sonst nicht scharf auf neue Nach-
richten bin. Für mich kein Problem; bin immer noch derselbe, wie
vor dem Knast - nur deutlich stiller.
Wenn sich die Kollegen nach Feierabend gröhlend die Hacke ge-
ben, marschiere ich heimwärts. Und wenn die im Suff Remmidem-
mi veranstalten, dann ohne mich. Hab schließlich Verantwortung.
Außerdem Bewährung. Wenn die kippt, lande ich im Bau, und Paps
wieder in der Klapsmühle.
Die Jungs vom Schlachthof sind ziemlich rauhe Gesellen. Ohne
Suff und Klopperei fehlt denen was. Übrigens: mehr als die Hälfte
von denen saß mindestens schon einmal im Knast. Raub, Verge-
waltigung, Körperverletzung, Totschlag - die ganze Palette. Der
Schlachthof ist sozusagen Auffanglager für sämtliche Knackis der
Stadt. Ist ja auch praktisch, weil die schweren Jungs so besser zu
kontrollieren sind.
Anfangs wußte ich nichts von lauter Ex-Insassen im Schlachthof.
Hab mich aber sofort in die Knochenbude versetzen lassen, als es
Gewissheit wurde. Vorher war ich Ausputzer. Därme, Mägen, sämt-
liche Innereien aus hingeschlachteten Tieren kratzen. War der
Hilli, der jedem blutverschmierten Schwein Wanst und Arsch be-
reinigt. Zum Glück bin ich da weg. Laufend Schlägereien. Danach
fehlten meistens zwei oder drei Leute in der Putzerabteilung. Wo
die gelandet sind, ist ziemlich logisch. Einmal Knast, immer Knast,
pflegen die Jungs zu sagen. Stimmt - jedenfalls bei den meisten.
Will keinen Ärger haben; gehe also jeder Pöbelei aus dem Weg.
Die von der Betriebsleitung lässt es kalt, wenn es wieder mal in der
Bude schebbert. Fehlen halt drei Leute. Macht garnichts, dann wird
eben Nachschub geordert. Knastjungs gibt's offenbar reichlich. Und
Geld kann das ‘Lumpenpack’ ja auch noch verdienen. Stinkt zwar,
die Arbeit, aber es gibt ordentlich Kohle. Die stinkt bekanntlich nicht.
 

Freitagmittag.
Eine Stunde früher Feierabend. Punkt drei gehe ich duschen; ‘stelle’
vorher die dreckstarre Arbeitskluft in den Spind; wühle mich in fri-
sches Zeug; verdufte schon viel besser gelaunt, Richtung Innenstadt.
Schnee weht durch die Straßen. Eigentlich viel zu kalt, um Eis zu
schlecken. Den Luxus gönne ich mir - Sommer, wie Winter. Rie-
sensofteis für ‘ne Mark.
Kurz nach vier. Paps und Gabi werden wohl gerade die Sektflasche
köpfen. Besser, ich lass die Beiden noch ‘ne Weile allein. Mich brau-
chen die ja nicht.

Bis etwa acht Uhr trödele ich stadtauswärts. Schätze mal, daß die
zwei jetzt im ‘Schwanensee’sind. Jesses – Paps und Schwanen-
see...Entweder schläft der beim Vorspann ein, weil der Sekt wirkt;
oder spätestens, wenn Gabi drangeht, ihm die Buchs auszuzieh'n.
Halt dich bloß tapfer, Paps - sonst ist nichts mit leckerem ‘Nach-
tisch’.
Das Eis ist verputzt. Runter, zum Hafen? Nee, lieber nicht. Im Ha-
fen sind Schiffe. Die ohne mich wegfahren zu seh'n, ertrage ich
nicht.
Zu Schlappenpaul?
Gute Idee. Der ist zwar auch am Hafen, aber da siehste vor lauter
Qualm die Leute nicht; geschweige denn Schiffe - außer die mit
Schlagseite.
Lindenpark. Fiffi mit Oma zockeln vorbei. Der Bonsaihund hat kei-
ne Lust, durch Schnee und Dreck zu trippeln; drum schimpft Oma
mit ihm. > Wenn du nicht gleich kommst, lass ich dich glatt in der
Kälte verhungern! <
Das hilft. Fiffi holt auf; überholt sogar und kläfft, als wolle er sa-
gen: mach du lieber hinne, oder ich mach ‘nen Abflug!
Auf einer Bank lassen sich zwei Penner einschneien. Wie Ölgötzen
sitzen sie da, und genauso starren sie stur auf den leeren Ententeich.
Hinter dem kahlgewehten Park, der Bahnhof. Keiner, der Zug fah-
ren will. Rüber; andere Straßenseite. Frische Grube. Marienkirche.
Geradeaus. Dann links.
‘Rostocker Bier’steht auf dem gammeligen Schild. Jeder hier weiß,
daß der alte Paul die Bierbude betreibt.
Rein.
Mollig warm.
Durch den Rauch grüßt der Alte.
> Und dein Vatter? <
> Hat’n Rondevu mit Gabi. <
> Gabi? Gabi?... Kenn ich nich’. <
> Kennste doch. War auch schon hier! <
> Wie sieht se denn aus? <
> Geht mir ungefähr bis hier...<
Ich streiche am Kinn lang.
> Mitte vierzig. Kurzes, braunes Haar. Blaue Augen. Fischmund.
Kleiner Leberfleck unterm linken Auge...<
> Und ‘ne Riesenklappe? <
> Genau die. <
> Jo, kenn ich. <
Seine Hand prescht vor.
> Tach erstmal. <
Ist so Sitte bei Paul, daß er jedem die Hand drückt. Fremde Leute
finden das fast zu nett; um nicht zu sagen: scheissfreundlich.
Er ist so; denkt sich nichts dabei; außer vielleicht, daß sich jeder
in seiner Bude wohlfühlen soll.
Wohlfühlen? Na ja, Pauls Kneipe ist ‘ne Kaschemme, hoch zehn.
Gemütlich ist eigentlich nur der Wirt. Trotzdem strömen laufend
Gäste herein - junge; nicht mehr junge; ganz alte, Scheintote - par-
don - stimmt aber. Letztere sind Trinker im Endstadium, bei denen
Paul nicht anschreibt, weil sie morgen schon hinüber sein könnten.
Ansonsten - buntes Volk mit bunten Manieren. An jeder Ecke La-
chen und Streitereien, Gejammer und Heulsusen. Ist hier erlaubt.
Paul hört allen zu. Muß er ja auch, wenn er dauernd anwesend ist.
Er selbst ist praktisch sein bester Gast; tankt Bier in Massen und hat
auf, bis in die Puppen. ‘Rostocker Bier’macht erst nachts, um zwei,
zu - wenn vorher nicht die Polente anrückt - und morgens, sechs
Uhr, wieder auf. Vier Stunden Schlaf reichen dem ollen Paul. Der
ist immer fit. Wenn ihn Müdigkeit doch mal übermannt, dann drückt
er irgendeinem andern das Zepter in die Hand - auch Wildfremden -
und legt sich in der Ofenecke schlafen.
Logisch, daß bei soviel Leichtsinn öfter mal die Tageseinnahmen flö-
ten sind. Rappelvoll, die Bude. Rappelvoll, die Leute. Da fällt keinem
auf, wer mit der Kohle durchgebrannt ist.
> Schiet druff!, < pflegt Paul dann zu sagen; und genauso meint er
es. Kurz: er ist ein versoffenes Unikum. Kein Wunder, daß Paps
und er sich blendend verstehn.
 
Er stellt mir ein Schnapsglas vor die Nase. > Wird Zeit, dat du ma'
was Prozentiches hinter die Binde krist! Dauernd dat Zuckerwas-
ser. Davon kriste doch Pickel am Hintern.<
Pickel am Hintern sind mir lieber, als Klarer. Schiebe das Glas zu-
rück.
> Geht auf's Haus! < schnarrt er und zieht ‘ne Flunsch.
> Okay, okay. Aber nur den einen! <
> Jo. Nur den. Mehr kann ich mir nämlich nich’ leisten. <
Seine gelben Zahnstumpen kommen zu Tage.
Ansetzen. Hinein. Heftiges Schütteln.
> Siehste. Tut garnich’ weh, ne?, < witzelt er.
> Eklich, das Zeug. Gib mir noch einen! <
Nach dem vierten Klaren winke ich ab, weil ich anfange, blödes
Zeug zu reden; erzähle vom Schlachthof, von Paps und Gabi.
Drei Thekenmeter weiter fletzt sich ein Ex-Kollege von der Werft.
> Die Gabi is’n Luder, < findet er. > Wenn die mit ’m Dieter in die
Falle steigt, denn nur, um zu prüfen, ob Radatten zu holen sind! <
Vom Schnaps ermutigt, packe ich ihn am Kragen. > Gabi is’ keine
Nutte, klaaar?! <
Gestotter. > Kkkrich dddich eiein, Mmmann. Isss schon kkklaaar! <
Lasse den Arsch nur ungern los. Schlagartig wird mir bewusst, dass
die Attacke, eben, Grund genug wäre, mich wieder hinter Gitter
zu stecken. Scheiss-Bewährung! Nur gut, daß hier keine Bullen ihr
Bierchen trinken. Die kommen nur, wenn 'Rambazamba' ist.

Ich hab genug; bezahle drei Klare und verschwinde.
Kalter Schneewind treibt den kleinen Rausch aus.
Acht Straßen weiter bin ich zu Hause. Im dritten Stock brennt Licht.
Kurz vor neun. Die Beiden müßten jetzt längst auf dem Weg zur
Vorstellung sein...Sind sie aber nicht. Mir schwant nichts Gutes,
wenn ich so drüber nachdenke. Ausgefallen...die Vorstellung wurde
abgesagt, wegen Schietwetter. Nee, wegen fehlender Schwäne. Viel-
leicht fehlt auch Paps' Begleitung, weil sie keine Lust auf Kultur
hat. Was weiß denn ich!
Treppe hoch; Wohnungstür auf. Der Flur. Das Wohnzimmer. Zag-
haftes Öffnen der Tür. Ins Licht blinzeln....
 
Da sitzen sie.
Stimmt nicht. Gabi sitzt. Paps liegt. Er ist eingepennt, bevor es
spannend wurde.
Die Sektflasche ist leer - und Paps hängt auch da, wie Flasche leer.
Gabi streicht ihm das dünne Haar glatt. Enttäuscht ist sie nicht - und
wenn doch, kann sie es gut verbergen.
Wir setzen uns in die Küche. Es ist still. Zu still.
Endlich redet Gabi; nicht wie sonst, daß es jeder hört. Jetzt hat sie
Flüsterstunde. > Er ist schon nach dem zweiten Glas weggedöst...<
Ich versuche, gute Miene zu machen. > Bist nich’ sauer, oder? <
> Nee, < sagt sie. Doch, klar bin ich sauer!, würde sie viel lieber sa-
gen - ich spüre es.
> Er kann eben nich’ mehr so, wie er will. <
Ein saures Lächeln von ihr.
> Das wird wieder!, < rette ich, was zu retten ist.
> Glaubst du selber nicht, ne? <
Sie legt eine Hand auf meine. Ihre Finger krabbeln weiter, den Arm
rauf. Sie streckt sich; streichelt mir Schulter und Nackenhaare. Ani-
malisch, dieses Streicheln...! > Bist’n Ausgeschlafener. Und stark...<
(So stark auch wieder nicht) Ihre Hand spaziert halsabwärts;
schnappt sich meine; preßt sie an die Brüste. Warme Brüste; prall
und saftig. > Na, komm... Haste schon mal gevögelt? <
> Klar doch. Schon mit Vierzehn! <
Glatt gelogen. Das stört sie nicht. > Komm...Komm her, Angeber
und zeig’s mir.<
> Hiiieeer? <
> Wo sonst. Komm schon! <
Wir schaffen es gerade noch nach nebenan, ins Schlafzimmer. Da
zeigt sie es mir auf dem Fußboden. Mir stehn die Haare zu Berge,
bei dem, was sie mir so alles zeigt. Einmal schreit sie, daß mir
Angst und Bange wird, Paps könnte es hören. Aber der schläft wie
ein Toter.
Ungefähr eine Stunde später zieht sie sich an; sagt: > Gut gehalten,
Angeber. Komm nächstes Mal zu mir, wenn du willst. <
> Und Paps? < ist die blitzschnelle Frage.
Anscheinend findet sie das lustig. Ihr hohles Lachen sagt alles.
> Dein Oller ist ein Pflegefall. Damit mußt du dich abfinden.<
Muß ich nicht.
Ich schmeiß sie raus.
Ihr Spruch fällt mir wieder ein. > Anständig sind andre Weiber...<
Stimmt.

Schleiche nochmal ins Wohnzimmer. Paps schläft tief und fest.
Krieche auf die Couch, daneben; kriege kein Auge zu.
Auf dem Tisch zwei Karten. Ein Blick zur Uhr. Gleich zehn.
Egal! Klamotten an; Vatters Schlips in die Hosentasche - ab, ins
Theater!
Hab noch nie ein Theater von innen gesehn.
‘Schwanensee’ war schön. Nicht so schlimm, daß ich die Hälfte ver-
passte. Drum fand ich die zweite Hälfte noch schöner; träumte und
träumte; und wie ich so vor mich hin träumte, gingen auch schon
gegen Mitternacht die Lichter aus. Und ich fand mich frierend drau-
ßen, im Schneetreiben, wieder.


Wenn zwei schlecht drauf sind, liegt Krach in der Luft....Am an-
dern Morgen schleudert Vatter seine Kaffeetasse an die Wand - ein-
fach so, aus heiterem Himmel.
> Ihr wollt mich fertichmachen! < brüllt er wutschnaubend. > Ma-
nipuliern wollt ihr mich! <
> Manipuliern?, < sage ich so ruhig, wie möglich. > Du spinnst.
Komm wieder auf’n Teppich. <
Er hat keine Lust, auf den Teppich zurück zu kommen.
> Ihr habt euch gegen mich verschwor’n, dat weiß ich ganz genau!<
> Wer Ihr? < fauche ich.
> Na, du und all die andern... Mir reichts jetz’! <
Es regnet Spucke aus seinem Mund.
> Ich hau ab. Undzwar für immer! <
> Wohin willste denn abhaun? Zurück, zum Friedenshof? <
Das hätte ich besser nicht sagen sollen.
Er springt hoch; läßt die Faust auf den Tisch krachen.
> Na und! Lieber da, als hier! Ich kann euch nämlich nich’ mehr
sehn; falsch, wie ihr alle seid!...Ich hau ab! <
Er zögert; wartet offenbar, daß ich nachgebe und ihn anbettele,
hier zu bleiben. Leider ist mir nicht danach; stattdessen sage ich den
nächsten falschen Satz. > Den Weg kennste ja gut...<
Er ist bleich, schnappt nach Mantel und Schal; marschiert schnur-
stracks zur Tür raus.
Keine Minute später kommt er wieder rein; poltert um den Tisch,
schnappt nach meiner Teetasse und kippt ihren Inhalt in meinen
Schoß. Zum Glück ist der Tee nur noch lauwarm. Trotzdem bin ich
kurz davor, auszuflippen!
Okay, er ist krank, besinne ich mich. Sei nachsichtig mit ihm... Bin
ja nachsichtig, verdammt! Hab aber auch nur Haut - kein Bären-
fell.
Paps verschwindet.
Der kommt wieder, sage ich mir, nachdem sich der Sturm im Innern
gelegt hat. Wenn er sich erst, wie ich, abgeregt hat und klarsieht,
steht er wieder auf der Matte. Spätestens heut abend, oder morgen
früh. Kommt ganz auf den Inhalt seiner Brieftasche an. Klar, er wird
sich die Kanne geben; Saufgelage bis zum Umfallen, und Schlappen-
paul wird genug Freiwillige finden, die ihn heil nach Haus schlep-
pen. In die Klapsmühle am Friedenshof geht er garantiert nicht -
jedenfalls nicht freiwillig. Den Irrtum bemerkt er sogar im Wahn.
Manipulieren....der hat doch wohl ein Rad ab. Mir ist niemand be-
kannt, der ihn manipulieren will. Rad ab, sag ich doch. Könnte man
drüber lachen, wenn’s nicht so traurig wär...
Dann kommt es - das schlechte Gewissen. Renn ihm nach! Los,
mach hinne!
Hat keinen Zweck. Der ist doch längst über alle Berge. Bei Paul
lässt er sich wahrscheinlich doch nicht blicken, weil er weiß, daß
ich da zuerst suche. Mensch Papa, bau bloß keinen Mist...!
Warte und hoffe; starre abwechselnd Löcher in Wände und Fenster.
Warte und warte.
Mittag wirds.
Nachmittag.
Abend.
Nacht.
Von Vatter kein Lebenszeichen.
Nehme mir vor, bis morgen früh zu warten. Die Zeit lass ich ihm.
Nachts, halb Zwölf, sendet die Glotze nichts mehr. Testbild. Das
starre ich an, bis kurz nach Zwölf; dann wirds mir zu blöd.
Hose, Jacke, Stiefel über; raus, in die beissende Kälte.
Zuerst Richtung Hafen. Zu Paul.
Lauter Besoffene; aber keiner mit gelbem Schal und schwarzem
Mantel.
Weiter.
Ja, weiter. Aber wie weiter? Alle Kneipen, außer ‘Rostocker Bier’,
sind dicht. Kann sein, daß Kumpane ihn zum privaten Umtrunk ein-
gespannt haben. Die gibts reichlich. Keine Ahnung, wo die alle
hausen.
Mist! - Hände und Füße haben sich der Scheißkälte angeglichen -
sind eisig. Nicht mehr lange und ich bin ‘ne einzige, wandelnde
Frostbeule. Noch eine Runde im Stadtzentrum; dann ist Schluß.
Lübsche Straße; Krämerstraße hoch; Kaufhaus Magnet; durch die
Passage; Richtung Markt.
Tote Hose. Kein Schwein traut sich bei der Kälte raus.
Wirklich keiner? ... Drüben, an der Wasserkunst, weht eine Ge-
stalt hin-und her. Kein Geist. Doch Geist - einer, der pinkelt - und
der kommt mir irgendwie bekannt vor...Nähere mich sachte von
hinten; erschrecke ihn. Das bringt ihn völlig aus dem Takt, und
schon fliegt er um.
> Mensch, Papa...<
Setze mich dazu. Wir frieren wie die Schneider. Er nicht so sehr,
weil er einiges intus hat. Ungläubiges Starren. > Wie kommst denn
du hierher? <
> Na, zu Fuß, wie sonst. <
> Und ich? <
Kein Scherz. Er meint die Frage ernst.
> Auch zu Fuß, schätz’ ich mal. <
> Das mein’ ich nich’.<
Sein Blick zur Rathausuhr. Kopfschütteln.
> Bin ich denn total bekloppt, nach Mitternacht hier rumzugeis-
tern?! <
> Biste wohl. Macht aber nix. <
Eigentlich ein schönes Bild, denke ich. Der große Marktplatz; Häu-
ser im Rechteck; wie schützende Arme. Dunkle Fenster, helle Gie-
bel, und mittendrin zwei ‘Nachteulen’ auf spiegelglattem Kopf-
stein.
Frage ihn, ob alles in Ordnung ist?
> Ja, wieso, war was nich’ in Ordnung? <
Starre ihn an und weiß, daß er nicht flunkert. Von jetzt auf nachher
alles vergessen. Aber jetzt scheint er wieder auf dem Damm zu
sein - halbwegs, denn die Schnapsfahne sagt mehr, als Worte.
Schwamm drüber.
> Gehn wir? <
> Helf mir ma’ hoch. <
Mach ich.
> Papa, der Hosenstall...<
> Oh. ‘tschuldigung. <
Ssssst. Zu.
Wir gehn. Alle paar Meter muß ‘ne Pause eingelegt werden, weil
sein linkes Bein taub ist. Von der Kälte, rede ich mir ein. Ist nur
von der Kälte.
Tage später ist das Bein immer noch taub. Dann auch das rechte
Bein. > Mittelschwere Durchblutungsstörungen, < meint der Doc,
der ihn Zuhause untersucht. > Wenn’s nicht besser wird, muß ein
Rollstuhl angeschafft werden. <
Wie der das sagt...ohne mit der Wimper zu zucken. Rollstuhl an-
schaffen, und fertig. Was soll Paps mit ‘nem Rollstuhl?! Er will auf
seinen Beinen laufen und nicht auf Rädern durch die Weltgeschich-
te gurken.
Er hat Glück. Und Unglück. Den Roller braucht er nicht, weil sich,
Dank ominöser Turbopillen, die Durchblutung seiner Beine bessert.
Dafür verschlechtert sich die seines Gehirns. Die Pausen zwischen
Klarsein und Verwirrung werden immer kürzer; so kurz, dass ich
die Schlachthoffritzen um Extraurlaub anbetteln muß.
In der folgenden Woche kämpft Paps mit elf Anfällen, die allesamt
mit Schmerzattacken einhergehen. Er schmeisst sich fiebrig imBett
hin - und her. Ich werfe den ‘Pferdedoc’ zur Tür raus; besorge einen
anderen, der auch nur die Schultern zuckt und Beruhigungspillen
da lässt. Die Pillen helfen nicht. Paps hält sich schreiend den schmer-
zenden Kopf; brüllt das Haus zusammen, verwüstet die Wohnung,
sobald ich außer Reichweite bin; zerkratzt sich Gesicht und Arme,
die Hände, ritzt an seinen Pulsadern herum. Ich schaff’s nicht, ihn
zu bändigen; rufe schließlich einen Krankenwagen. Ab, ins Kran-
kenhaus. Die wollen ihn möglichst schnell loswerden. > Ihr Vater
gehört sofort in psychiatrische Betreuung!, < wollen die mir einre-
den.
Kenn’ ich, den Spruch. > Ich bin sein Betreuer, klaaar.?! <
Wie ein Schießhund passe ich auf, daß die Krankenhausfritzen 
nicht auf blöde Ideen kommen; ihn ohne mein Einverständnis weg-
bringen. In die Klapsmühle kommt er auf keinen Fall...!
Schlafe auf der Bank, im Stationsflur - immer nur im Minutentakt.
Dazwischen bin ich hellwach. Traue den Brüdern und Schwestern
nicht. Von wegen, ihn bei Nacht und Nebel hier wegschaffen; ha!
Könnte denen so passen!
Bin auf Posten, wie gesagt...wenn bloß die verdammte Müdigkeit
nicht wär...! Sie kriegen spitz, daß ich immer öfter wegdöse. Und
dann tun sie, was sie für richtig halten - ohne mein Einverständnis.
Als die soundsovielte Schlafpause endet, muß ich feststellen, daß
Paps auf dem Weg zum Friedenshof  - und sein Bett schon neu be-
zogen ist.
Einen Riesenlärm hab ich gemacht! Der bulligen Oberschwester
hab ich mindestens - wenn nicht noch öfter - die Pest an den Hals
gewünscht.
Schließlich wurde ihr mein Geschrei zu bunt. Sie packte mich;
schmiss mich einfach raus.
> Fette Kuh! Muh! < schrie ich ihr nach.
Die ‘Kuh’ grinste nur; verschloss die Außentür.
Die ganze Stadt schrie ich zusammen. Stundenlanges, zielloses Um-
herrennen. Und Geschrei! Wer schreit, muß nicht nachdenken. Zwi-
schendurch, beim Luftholen, dann doch Hölle im Kopf... Sie haben
ihn weggebracht. Eiskalt geklaut, während ich schlief. Schweine,
die!...Weiterschreien. Weiterlaufen. Leute, die vorbei hasten, ziehn
die Köpfe ein; halten mich für irre.
Bin ich auch - irre. Irre wütend!!!
An der Hafenmole hocken Massen schwarzer Vögel. Die hab ich
mit Schotter bombardiert; hab alle verjagt - bis auf einen. Der ließ
sich nicht verjagen; glotzte genauso gottverlassen, wie ich.

 

 

Sommer 198o.
Kurt-Bürger-Stadion. Wismar.

Sport schlaucht. Und beruhigt.
Seit Paps wieder im Friedenshof sitzt, trainiere ich wie ein Beses-
sener. Schleif, der Leichtathletik-Trainer, macht seinem Namen al-
le Ehre. Er schleift die Jungs und Mädchen bis zum toten Punkt -
bis zum Gehtnichtmehr. Von nix kommt nix, ist seine Devise.
Kann mir nur recht sein, denn ich will auch zum Kreis erlauchter
Sportskanonen gehören, die er schon groß rausgebracht hat. Ende
Februar, als ich hier ankam, prüfte er erstmal, was er denn aus mir
machen will - Werfer, Springer, oder Läufer.
Deine Grundschnelligkeit ist nicht schlecht, bemerkte er nach den
ersten Laufversuchen. >  Aus dir mach ich ‘n Spitzensprinter! <
Wenn er so davon überzeugt ist, bin ich es auch.
Die hundert und zweihundert Meter werden meine Spezialstrecken.
Klingt gut...nur 200 Meter laufen, und gut ist. Von wegen - wenn
du die Distanz schneller als andere rennen willst, mußt du trainie-
ren wie eine Sau, im wahrsten Sinn des Wortes. Nach drei Stunden
ständig wiederholter Tempoläufe auf Aschenbahn siehst du näm-
lich aus, wie ‘ne Sau - dreckbeladen. Und genauso schnaufst du.
Zu Trainingsbeginn ist Gymnastik üblich; zur Lockerung der Mus-
keln. Dann folgt Treppenlaufen. (Warst du schon mal im Stadion?
Na, denn weißte ja, wie hoch die Treppen zwischen den Rängen
sind.) Beine, Muskeln, werden davon hart, wie Beton.
Danach Lockerungsübungen, bevor jeder in seine Spezial-Disziplin
wechselt. Herr Schleif drückt mir jeden Tag einen neuen Trai-
ningsplan in die Hand. Meistens wird mir schlecht, wenn ich sehe,
was drinsteht, im Plan. Zehn Stadionrunden Intervallläufe. Kurze
Verschnaufpause. Dann zehn Runden volle Pulle, mit nur zweimi-
nütiger Pause dazwischen. Eine Runde lockeres Austraben; pardon,
laufen. Und wenn ich denk’, jetzt ist die Schinderei endlich vorbei,
kommt der Schleifer angetanzt und hängt nochmal fünf Runden
dran; oder zehn.
> Du kannst das noch besser. Gib alles! < spornt er das Rennpferd,
also mich, an.
Logisch, ich gebe alles; aber für jetzt ist Sense. Bin kaputt; die Bei-
ne eiern und auch sonst sind alle Körperfunktionen auf Rot.
> Na denn, morgen gehts weiter,< meint der Trainer und klopft mir
ins schmale Kreuz.

 

 

Es ist Sommer. Seit fünf Monaten tue ich mir die Schinderei schon

an. Und siehe da: trotz anfänglicher Skepsis ist ‘ne richtige Renn-
maus aus mir geworden. Inzwischen lasse ich sogar Uli Linkner,
der auch auf die ein-und zweihundert Meter spezialisiert ist, hinter
mir. Dem stinkt das natürlich; er schiebt verschärftes Sondertrai-
ning ein; rennt sogar Sonntags hirschähnlich durch Wald und Wie-
sen. Nützt alles nichts - ich bin schneller, als er.
Letztens liefen wir direkt gegeneinander. Er die Hundert in 11,4 Se-
kunden. Ich in 11,2. So ein Pech aber auch - für ihn. Schleif lässt ihn
zur Strafe gleich zwanzig Mal die hundert Meter laufen. Der Uli
tat mir ja schon ein bisschen leid, deswegen. Wenn er nicht so’n
eingebildeter Fatzke wär, könnten wir sogar Freunde werden. Doch
er wird schon deshalb nicht mein Freund, weil er auf Petra scharf
ist - genau wie ich.
Doppeltes Pech für ihn, denn Petra ist mir wohlgesonnen, weil ich
der Schnellere bin. Neulich waren wir zusammen spazieren. Wäh-
rend wir dahin spazierten, meinte sie: > Du bist anders. <
Finde ich auch. Nur: wie meint sie das?
> Nicht so albern. Ruhiger. Könntest schon Dreißig sein, oder noch
älter. <
> So alt? < stutze ich.
> Na ja, nicht äußerlich. Deine Art, mein’ ich. <
Sie kichert, leicht verlegen.
> Kannst ruhig öfter mal lachen.<
Ich verspreche es, weiß aber, daß es noch dauern wird.
Wir schlecken Eis; hocken uns später in die Büsche, am Wallgar-
ten. Kranarme ragen am Horizont auf. Die Werft. Ein Horn ertönt.
Petra jubelt. > Horch! Da fährt ein Schiff weg! <
> Lass es fahrn, < antworte ich und krabble unter ihr T-Shirt. Sie
ist erst Sechzehn, hat aber schon fast so große Brüste, wie Gabi.
Weiterkrabbeln...Kein BH; dafür schweisswarme Haut. Als ich in
Höhe der Brustwarzen bin, schnappt sie nach meiner Hand.
> Warte...<
> Worauf warten? <
Sie zieht das T-Shirt aus. Nett von ihr. Attacke, die Zweite!
> Warte...<
Schon wieder?
Sie zieht die Fransenjeans aus.
Jetzt aber. Attac...!
> Warte...Jetzt du...<
> Was? <
> Na, ausziehn. <
Achso, ja. Geht ganz schnell.
> Du zuerst. < Sie meint die Unterhose.
Na gut. > Und du? <
Ein schwaches Lächeln.
> Hab Besuch vom roten Platz...Schlimm? <
Die Tage. Auch das noch!
> Aber nur ´n ganz klein bisschen!, < fügt sie schnell hinzu. > Bist
nicht sauer, ne? <
> Nöö, nich’ so schlimm...<
Die fliegenden Schlüpfer bleiben irgendwo im Geäst hängen. Petra
schüttelt ihr langes Haar, macht es sich in Seitenlage gemütlich,
spitzt die Lippen, kommt näher; ganz nah; kitzelt mich überall.
Attacke, die Vierte!
Ich zeige ihr, was ich bei Gabi gelernt hab; zeige ihr alles, bis ins
Detail. Vielleicht war ich etwas zu genau im Detail....Anfangs ist
Petra noch voll dabei. Doch später blockt sie, und sagt: > Lass uns
einfach nur’n bischen kuscheln, ja? <
Also kuscheln wir und sie fragt nebenbei, ob ich immer so rangehe?
> Nee, < beruhige ich sie. > Ist so über mich gekommen, weißte?
Wegen der Hitze. Und die Gabi, neulich... <
Mist. Hab mich voll verplappert. Hab alles vermasselt.
> Gabi? <
Ich Idiot!
> Ach, vergiss es. <
Kann ich vergessen, denn sie dreht sich weg. In dem Moment weiß
ich, daß ich meine erste, richtige Freundin los bin. Zwar verabreden
wir uns noch für denn nächsten Tag. Aber sie kommt nicht.
Am übernächsten Tag die gleiche Ausrede: hab Kopfschmerzen.
So heftig können ihre Kopfschmerzen nicht gewesen sein, denn Ü-
berübermorgen rockt sie mit Uli Linkner in der Wallgarten-Disco
ab. Der schnappt sie mir dann auch ganz weg.
Was solls, sage ich mir. Gibt genug andere Mädchen im Verein. Die
doofe Pute kann mich mal! Lauter schöne Mädchen; was brauch ich
Petra. Die brauch ich bestimmt nicht. Die nicht!
Oder doch?
Wenn schon. Vorbei ist vorbei.


Bullenhitze. Und ich renne Runde um Runde.
Der Trainer will mich bremsen; ruft: > Hee, mach halblang, Junge.
Wirst noch früh genug ‘n Spitzenmann! <
Früh genug dauert mir zu lange. Laufe wie gedopt - allein - die an-
dern sind längst geduscht und auf dem Nachhauseweg.
> Gibt’s ‘ne Möglichkeit, daß man noch mehr aus der Schnellig-
keit rauskitzeln kann? < will ich wissen.
Der Trainer grinst. > Gibt mehrere Möglichkeiten.<
> Und die wären? <
Er zieht los, Richtung Geräteraum.
Minuten später kommt er mit breitem Bauchgurt, Leine und Trec-
kerreifen zurück.
> Schnall den mal um...<
Geschnallt.
Nach weiteren Minuten laufe ich wieder - diesmal mit Bauchgurt,
Leine im Rücken und Treckerreifen im Schlepptau. Puuuh! Acker-
gaul ist nix dagegen!...Es staubt mächtig. Vierhundert Meter Staub-
wolken. Achthundert....
Nach der dritten Stadionrunde streiken Beine, Puste und Magen fast
gleichzeitig. Kotze mitten auf die Bahn; klappe zusammen.
Schleif kommt angerannt; scheuert mir zwei, oder drei.
Wer, was, wo? Ach so...bin im Stadion...
Hechele noch nach Luft; bettel’ aber schon, daß er meine Zeit
stoppt, wenn ich ohne Reifen renne.
Will er nicht, weil ich völlig fertig bin, wie er findet.
Blödsinn! Bin fit wie Bolle; nur noch ‘n bisschen knapp bei Puste.
Nach dem vierten Bettelversuch willigt er ein.
Ich löse die Bauchfessel; gehe zum Startblock.
Ein Schuß.
Rennen. Nein, fliegen! Ohne den schweren Reifen glaubst du, zu
fliegen...! Federleicht ist jeder Schritt plötzlich!...Achtzig, neunzig,
hundert Meter...Durch’s Ziel fliegen!
Schleif ist höchst zufrieden. > Zehn komma neun Sekunden! <
10,9. Nicht übel. Drei Zehntel besser, als vor einer Woche. Die ma-
gischen Elf geknackt. Astreiner Wahnsinn!
Ja, Wahnsinn - denn danach, unter der Dusche, breche ich nochmal
zusammen. Kreislaufkollaps.
Der Trainer ist schon weg. Gegen Abend macht der alte Hausmeis-
ter seinen Stadionrundgang. Bei der Gelegenheit rettet er mich; ruft
einen Krankenwagen.
Eine Woche später bin ich wieder fit für weitere Heldentaten.


Komme jetzt viel rum. Die sechs Besten des Vereins fahren regel-
mäßig zu offenen, überregionalen Wettkämpfen. Berlin, Leipzig,
Magdeburg, Potsdam. Paps kriegt jede Menge Ansichtskarten aus
halb Deutschland. Antwort kommt nie. Egal, Hauptsache er weiß,
daß ich ihn nicht vergesse.
Uli Linkner, der auch zum Bestenkader gehört, fragte mich letztens
im Bus, ob ‘Friedenshof ‘ nicht die Irrenanstalt sei? Der Doofi hat
heimlich mitgelesen, während ich vor mich hinschrieb.
> Nee, < hab ich geschnauzt. > Er wohnt nur zufällig im selben
Viertel, das auch so heißt. Und überhaupt...geht dich garnichts an,
klaar?! <
Er verzog die Fresse. > Fragen darf man ja, oder? <
Darf er. Nur soll er nächstes Mal nicht so’n Scheiss fragen.

Nach dem Wettkampf in Berlin kommt der Trainer abends noch
mit, auf die Bude. Er spendiert ‘ne Flasche Sekt. Und wie die leer
ist, stößt er mich an.
> Ich hab vor, dich zum SC Empor Rostock zu delegieren...<
Schade, daß die Sektpulle schon leer ist, denn sonst würde ich sie
vor Schreck in einem Zug wegsaufen. Empor Rostock...Magische
Worte, die nur wenige Sportler zu hören bekommen. Da klingeln
alle Ohren; denn wer nach Rostock geschickt wird, muß sich keine
Sorgen um Arbeits-Freistellungen machen. Die Schlachthoffritzen
waren zuletzt garnicht mehr fröhlich, wenn ich mit der soundso-
vielten Freistellung ankam. Richtig stinkig waren die. Doch zu
deren Pech, und meinem Glück, ist es so, daß Leistungssportler von
der Arbeit zu befreien sind, so die Amtssprache, wenn werktags
Wettkämpfe stattfinden. Die finden oft statt, und deshalb stinken
die Schlachthofheinis mächtig ab.
Mir piepegal; schließlich tu ich ja auch was für die sozialistische
Republik; vertrete sie irgendwann sogar im Ausland. Bin dann näm-
lich Repräsentant des Arbeiter-und Bauernstaates. Jesses, das hört
sich vielleicht bescheuert an...Ist aber so. Und weil das so ist, kön-
nen sich die Schlachthofaffen schon mal ‘nen andern Doofen für
die Knochenzerbrecherei suchen.
Im Verein sprechen wir oft über Rostock. Man hört so einiges... Of-
fiziell biste in irgendeinem Betrieb gemeldet und hast am Monats-
ende ein ordentliches Gehalt. Doch zu Gesicht kriegt kein Arbeiter
den sportlich eingespannten Kollegen. Der glänzt nämlich so gut
wie immer durch Abwesenheit; trainiert Vormittags, und Nachmit-
tags nochmal. Und zu Wochenende Wettkämpfe... Was will man
mehr? Sind doch tolle Aussichten. Zu toll, um wahr zu sein....
Wieder klingelt es in den Ohren; und diesmal sind es Alarmglocken,
die da läuten...Wer an die Rostocker Sportschule kommt, wird erst-
mal gründlich durchgescheckt. Genau da fangen die Probleme an....
Rein körperlich betrachtet, ist der Neuling fit wie ein Turnschuh. A-
ber was ist denn das da, in seiner Strafakte...? Republikflucht?
Also, nein...Bei bestem Willen; das geht garnicht. Wir legen uns
doch kein faules Ei ins Nest. Wenn wir den ins Ausland mitnehmen,
brennt der doch bei nächstbester Gelegenheit durch...
Worauf ihr euch verlassen könnt! Das ist nämlich Sinn der
ganzen, verdammten Schinderei. Wenn ich schon wie ein Irrer Run-
de um Runde kurve; täglich, wochen-monatelang, dann nur mit ei-
nem wirklichen Ziel: bei der nächstbesten Gelegenheit die Fliege
zu machen. Das weiß bis jetzt keiner; so soll es auch bleiben. Bin
ja ‘n Stiller, wie Petra schon sagte.
Garantiert spüren die Funktionäre schon bald den Eintrag ‘Republik-
flucht’ auf, und dann ist sowieso Pustekuchen, mit Rostock. Der
Supersprinter wird nicht für die sozialistische Käserepublik starten.
Eigentlich schade. Dennoch: aus der Traum.

 

 

Hab’s ja schon geahnt...Knapp eine Woche nach dem Berliner Wett-
kampf kommt Schleif mit sorgenvoller Miene zum Training. Rich-
tig traurig glotzt er aus der Wäsche. Und was er sagt ist auch nicht
viel lustiger. > Tut mir leid, Junge...Die in Rostock woll'n dich doch
nicht. <
Noch ein bisschen Zucker über die schlechte Nachricht.
> Aber hier biste immer willkommen; das weißte ja, ne? <
Etwas nachdenklicher und leiser: > Hätt'st mir ruhig sagen können,
daß du rübermachen wolltest. Gibt Schlimmeres, als das. Meine
persönliche Meinung - aber bloß nicht weitersagen, okay? <
Offenbar hat er selbst Schiss, den Trainerjob zu verlieren. Verspre-
che ihm, seine persönliche Meinung für mich zu behalten. Dafür
bedankt er sich doch tatsächlich wie ein grinsender Teddy auf dem
Fensterbrett.
> Ich geh denn mal.<
> Kommst aber wieder, ne? < Er reicht mir die Hand. Macht er
sonst nie - Hand schütteln. Wahrscheinlich hat auch er so eine Ah-
nung, daß wir uns nicht wiedersehn. Mir war das schon vorher klar -
genau in dem Moment, als er sagte: die in Rostock woll'n dich doch
nicht.
 
Duschen.
Ab, nach Hause.
Keiner zum Quatschen da. Nur ich und die Möbel.
Abends noch runter, zum Hafen. Zu Paul. Der lacht wenigstens,
wenn man reinkommt. Trotzdem alles Kacke...! Keine Arbeitsfrei-
stellungen mehr. Morgen wieder die Knochenfledderei im Schlacht-
hof. Der gleiche, langweilige Trott; dieselben kaputten Typen.
Scheiss drauf! Jetzt wird erstmal gesoffen.
Der erste Vollrausch.
Spätnachts; auf dem Heimweg, am Stadion vorbei.
Ich über’n Zaun; auf die Aschenbahn gepinkelt.
Das wars, Speedy.
 
 

Spätsommer.

Wir spazieren im Anstaltshof. Drei Meter hohe Mauern, ringsum.
Gitter vor den meisten Fenstern. Wo keine Gitter sind, ist Milch-
glas. Aufsichtspersonal, das die Besucher fest im Blick hat. Und In-
sassen, die nicht nach schweren und leichten Fällen unterteilt sind.
Alles in einen Pott. Leicht, halb, oder ganz verrückt - hier spielt das
keine Rolle. Verrückt ist verrückt; basta.
Die Kranken wandeln in Zeitlupe umher, mit wenigen Ausnahmen;
sind ruhig gestellt - auch Paps.
> Wie gehts dir, Papa? <
Könnte ich mir sparen, die dämliche Frage. Aber irgendwas muß
man ja sagen.
Er spricht langsam. Tiefe Stimme, wie die eines Sterbernden.
> Könnte besser sein.<
Nehme ihn an die Hand und ziehe ihn auf eine Bank. Bin längst
nicht mehr im Training; trotzdem Geflunker, daß ich jetzt bei TSG-
Wismar bin. Sprinter.
> Gut, < meint er. > Sport kann nich’ schaden....Wat sprintest denn
da? <
> Na, immer im Kreis rum. Im Stadion. <
> Ach so.<
Vorläufiges Ende der Unterhaltung. Er starrt die Mauer an; kratzt
sich überall. Er hat Ausschlag, und das nicht zu knapp. Er wuchert
praktisch schon zu. Die Hände sind blutig gekratzt. Am Hinterkopf
sind keine Haare mehr. Nur ganz oben wächst noch was.
Er trägt dieselben Einheitsklamotten wie alle Patienten. Kackbraune
Hose, braunes Hemd, graue Wollsocken, Klapperlatschen. Fehlen
nur die gelben Streifen und er geht als Knastinsasse durch.
Fürsorge? Gibt's hier nicht. Jedenfalls nicht augenscheinlich.
> Wie ist das Essen?, < versuche ich ihn aus der Abwesenheit zu-
rück zu holen.
Er hört nicht hin; kichert und kratzt sich auch noch die Fingerzwi-
schenräume blutig.
> Komm Papa, wir gehn noch ‘ne Runde...<
Während wir dahin trotten, hüpft dauernd einer wie Rumpelstilz-
chen um uns herum. Sein affiges Grinsen ist mir nicht geheuer. Weil
wir ihn ignorieren und ihn damit offenbar beleidigen, baut er sich
vor uns auf. > Ach, wie gut, daß keiner weiß, daß ich Rumpel...<
Weiter kommt er nicht. > Hau ab, Blödmann!, < schnauzt Paps ihn
an.
Das wirkt. Rumpelstilzchen verzieht sich augenblicklich. Der nächs-
te ‘Wegelagerer’ ist aber schon im Anmarsch. Die nächste...
> Silly,< stellt Papa sie vor, der plötzlich redselig wird.
Ich reiche der betagten Dame brav die Hand. Sie starrt mich ziem-
lich lange an; entdeckt schließlich ein Blatt auf meiner Schulter und
pickt es weg. Dann wackelt sie weiter.
> Die Frau’n sind im Nebenblock, < erklärt Paps. > Kriste nur bei
Hofgang zu Gesicht. Schade, die Silly is’ nämlich genau mein Typ.<
> ‘n bisschen alt, oder? <
> Kuck mich an!, < entgegnet er leicht gereizt. > ‘n Jungspund bin
ich auch nich’ mehr. Und außerdem seh ich aus, wie’n Streuselku-
chen mit Schwindsucht! <
Bitteres Gekicher.
Er stösst mir den Ellbogen in die Seite.
> Haste was zu Naschen mit? <
> Nee, hab ich nicht. Die filzen hier doch jeden.<
> Mist, blöder!, < jammert er. > So’n feines Tröpfchen könnte der
olle Zopp jetzt brauchen. <
> Ich versuch’s nächstes Mal, okay? <
Er schmollt. > Nächstes Mal is’ lange hin. <
> Weiß ich selber, Papa. Mußt eben noch vier Wochen warten. <
> Die ewige Warterei bringt mich ins Grab! <
Er lässt den Kopf hängen; versumpft wieder im Reich, wo keins
meiner Worte hinkommt.
Glockengebimmel. Die Besucher müssen gehn. Ich umarme Paps;
flüstere ihm was ins Ohr. Er wird es jetzt nicht verstehen - später
hoffentlich.
Das Tor nach draußen öffnet sich. Die Leute winken den Zurück-
bleibenden zu. Einige winken zurück; aber die meisten stehn nur
still da. Auch Papa. Trotzdem sein schwaches Lächeln. Er hat mei-
ne Worte verstanden. Das ist gut. Alles wird gut... Bis bald.
 
 
...beantrage ich Stadtausgang für Herrn....Mein Vater ist ein un-
auffälliger Insasse und leidet nur manchmal an Bewusstseinsstö-
rungen....bürge ich für die Rückkehr meines Vaters, nach dem Stadt-
ausgang....Würde mich sehr freuen, wenn Sie dem Antrag zustim-
men.
Freundliche Grüße...
 
Den Brief bringe ich selbst zum Friedenshof. Dann heißt es nur
noch, warten. Und Daumen drücken.
 

Drei Wochen später die Antwort - eine Seite lang. Mich interes-
siert nur der letzte Satz des ersten Abschnitts.
...wird Ihrer Bitte entsprochen.
Hurrraaa!
Zur Feier des Tages spendiere ich bei Paul ‘ne Runde Bier. Ich selbst
nehme die Himbeerbrause.
Der olle Paul löchert mich mit Fragen.
> Wann kümmt er denn nu’ raus? Ihr kommt doch vorbei, ne? Gibts
‘n besseren Grund zum Feiern?! Nee, ne? ... Wie is’n das so, im
Friedenshof ?<
> Ziemlich öde. Und: er kommt in zwei Wochen raus.<
> Für immer? <
> Nur für zehn Stunden. Morgens, um acht, bis sechs Uhr, abends.<
Er knipst ‘ne Zigarette an; zieht dran; pustet den Rauch zur Decke.
> Zehn Stunden nur? Schöner Beschiss. Also, ich würd’ da nich’
wieder einziehn. Jedenfalls nich’ freiwillich! <
> Ich auch nicht. Und Paps sowieso nicht. Deshalb hab ich ja den
Antrag gestellt, weißte...<
Mein Grinsen ist ihm nicht geheuer.
> Oha. Da is’ was im Busch. Stimmts, oder hab ich recht? <
> Stimmt. Aber psssst! <
Er zwinkert. > Kennst doch den ollen Paul...<
Na klar kenne ich ihn. Wenn’s nicht so wär, würde ich es ihm auch
nicht auf die dicke Nase binden.
> Sag Bescheid, wenn ihr irgendwas braucht, ne? <
> Mach ich. Und danke.<
> Wofür? <
> Na, dafür. <
Ich zeige auf Limo und Biere, die er unbedingt verschenken will,
obwohl ich die Runde bestellt habe. Er freut sich halt auch wie ein
Schneekönig auf Paps.
> Tschüß, Paul. Muß noch was Wichtiges erledigen...! <
Sein Zwinkern hört garnicht mehr auf. Soll wohl heißen: ich halt’
die Klappe; kannst dich drauf verlassen.
Prima Kerl.
Weg bin ich.
 
 
 
Erna wohnt total abseits. Lupow. Steht auf keiner Landkarte, das
Nest - das Gehöft, genauer gesagt. Ein Haus, ein Baum, ein Mensch;
der Stall, zehn Hühner, drei Schweine, eine Kuh. Und das zehn Ki-
lometer von Wismar weg. Bis zur Busbude sind es von Erna aus
fünfzehn Minuten Fußmarsch...Was das alles mit Paps zu tun hat?
Wenig - und doch viel. Erna ist seine Halbschwester. Früher war er
oft bei ihr; hat sogar einige Wochen in Lupow gewohnt.
Erna ist ‘ne echte Perle - schon deshalb, weil sie bereit ist, Paps
wieder aufzunehmen. Allerdings stellt sie zwei Bedingungen. Ers-
tens: Paps muß im Haus und draußen mit anpacken.
Kein Problem; dafür war er sich schon früher nicht zu schade.
Zweitens: Saufen ist tabu - zumindest das Saufen größerer Mengen.
Letzteres wird Paps nicht so toll finden. Ich muß hart verhandeln,
daß er wenigstens seine zwei Bier am Tag kriegt. Plus ein klitze-
kleines Schnäpschen. Sonntags gibts ein Gläschen Schnaps extra.
Darauf wird er eingehen, schätze ich mal; schon weil er weiß, daß
Erna ein butterweiches Herz hat und garantiert was außer der Reihe
springen lässt. Außerdem tausend Mal besser, als im Friedenshof, wo
es garnichts zu ‘Naschen’ gibt.
Habe Erna die Hälfte meines Arbeitslohns angeboten. Sie war rich-
tig sauer deswegen; hätte mir beinah eine geklebt.
> Dat Geld behälste! Und komm mir ja nich’ nochmal mit so’n ko-
mischen Angebot! Din Vatter is’ n Bruder von mir. Zwar nur’n hal-
ber, doch dat is’ schietegol. Den krich ich schon mit durchgefüt-
tert. Und min Stolz hev ich ok! <
Also, nichts ist mit Logie-Kosten. Wenn eine so stolz wie Erna
ist, lässt man die Dinge besser laufen, wie es ihr behagt - oder man
verduftet.
Jedenfalls sind wir uns ganz schnell einig. War schon drauf und
dran, der schrrumpligen Erna vor Freude gleich zehn Schmatzer
aufzudrücken. Aber nach dem Fünften meint sie: > So, nu’ langt's
mit dem Geküsse. <
Trotzdem lächelt sie, und die rot gewordenen Ohren wackeln mun-
ter. Sanft schiebt sie mich zur Tür raus.
> Bist’n Engel, Erna!, < rufe ich noch von Weitem.
> Ach wat, < winkt sie ab und schlappt ins Haus zurück.
 
 
Alles ist vorbereitet. Nur Paps fehlt.
Noch zehn Tage, dann kommt er.
Neun Tage.
Acht.
Sieben Tage vor Toraufgang melde ich ihn amtlich in der Beetho-
venstraße ab.
Sechs Tage vorher melde ich mich ebenfalls dort ab.
Am fünften Tag passiert nichts.
Am vierten komme ich zu spät zur Arbeit, weil ich vor lauter Auf-
regung kaum Schlaf finde.
Drei Tage davor ziehe ich mit Sack und Pack zur Oma, väterlicher-
seits, in die Poeler Straße.
Elende Warterei...!
Noch zwei Tage.
Einer.

Endlich!
Es ist der 17. September 198o. Acht Uhr, früh.
Das Tor geht auf.
Papa?
Da steht ein anderer Mann; zwei Meter hoch; einen breit, Backen-
bart und Riesenmuckis, in weissem Kittel. Er stampft schnurgerade
auf mich zu; setzt gepflegte Trauermiene auf. Ich starre ihn an, wie
jemand, der auch hier ‘wohnt’.
> Dein Vater hatte letzte Nacht einen Schlaganfall.<
Miserabler Witz.
> Wo ist er? <
Der Recke legt eine Pranke auf meine Schulter.
> Schwerer Blutsturz. Wir konnten nichts mehr machen. Tut mir
leid, ehrlich. <
Scherzkeks.
> Ihr habt ihn wieder weg gebracht. Geklaut, wie damals, stimmts? <
Er bläht die Backen; bleibt aber gelassen.
> Halb zwei; letzte Nacht, ist er gestorben. <
Seine Pranke drückt fester zu. Tut weh. Tut verdammt weh...! Ich
will die Pranke loswerden; will ihm für die Lügen in die Fresse
haun; volle Wucht und mit Anlauf; will ihn überraschen, so wie er
mich überraschte - negativ; aus purer Bosheit...!
> Ich will ihn sehn! <
> Wir haben ihn schon nach Schwerin gebracht. <
Also doch geklaut.
> In Schwerin wird er verbrannt, < sagt er, immer noch die Ruhe
selbst.
Die Wirklichkeit beginnt, sich in meinem Kopf einzunisten. Sie
packt mich an der Kehle. Aus Atmen wird Röcheln. Zuschlagen...
Schlag endlich zu...!
Die Wirklichkeit wird mächtig; übermächtig; streckt die schwarzen
Fühler aus; vergiftet mich mit kalter Asche. Wahrheit hat eine häss-
liche Fratze; sie macht es duster; reisst alles hinab, in tiefe Schwär-
ze....ich falle...stürze ab; lande weich in fremdem Raum....Die Nacht
ist verschwunden; ihr folgt silbrigweisses Wabern; zerrissen von
dunkler Röte....Blut, das in einem Bett schwimmt...das Wabern ver-
flüchtigt sich; auch die Röte; hell wird es, und klar....Papas Gesicht -
bleich wie Wachs; kahl, der Schädel, Eiterblasen, überall, auf der
Haut...sie platzen der Reihe nach; bis zum Schluss das Leben platzt...
Noch ist es nicht soweit...Kein Schrei nach Hilfe; nur das leise Blop
platzender Blasen. Er ist down; krächzt; sackt hintenüber aufs Bett.
In den halb geschlossenen Augen - Sterne. Gelbe Sterne. Er hustet
Schleim aus, und Blut. Da liegen noch andere Männer im Raum...
Sie schlafen fest. Er will auch schlafen; will endlich Frieden, doch
den kriegt er nicht - kriegt er nie. Nicht hier! Seine Pumpe rast hoch-
tourig; dann klinkt sie sich für Sekunden einfach aus...Die hochtou-
rigen Phasen werden kürzer - so kurz, daß er mit ureigener Angst
ringt. Elende Scheissangst!...Es klopft an der Tür. Er muss die Tür
öffnen! Wenn er die Angst besiegen will, muss er die Tür zu fassen
kriegen! Er stößt sich vom Bett ab; knallt zu Boden. Sein bleicher
Schädel taumelt in die Höhe; langsam, wie der Kopf eines Tod-
kranken. Das Bett...Die schwarz geränderten Augen schweben los-
gelöst darüber hin...Ein riesiger Fleck auf dem Laken. Blut...Er
zuckt zurück. Noch ein Blutsee; genau da, wo er kriecht. Er löst
sich auf. Alles löst sich auf - die Leber, Eingeweide; was noch? Das
Leben. Er spürt keine wirklichen Schmerzen. Da ist nur warmes
Blut, das durch den Darm nach außen strömt...Ihm wird schwind-
lig. Er gibt nicht auf; zieht sich aus der Blutlache, zur Tür. Wieder
klopft es...Er reisst die Arme hoch; zerrt am Griff. Eigentlich ist die
Tür nachts verschlossen; aber jetzt ist nicht sonst...Die Tür geht
auf. Er knallt erschöpft hintenüber, in den schmalen Lichtkegel. Der
Lichtkegel wächst und wächst, bis er ein Kreis ist. Zuerst blendet er
ihn. Die Gestalt im Licht, die jetzt auf ihn zutritt, kann er nur müh-
sam erkennen. Er vergehen einige Sekunden, oder Minuten. Dann
sieht er die Umrisse eines Riesen. Der Riese kann sprechen, und er
kann zupacken. Er hebt ihn auf; trägt ihn mühelos die Treppen run-
ter. > Hast du Angst?, < sagt die sanfte Stimme des Riesen, als sie
die Hoftür erreicht haben.
> Angst?, < schwindelt der Sterbende. > Wovor? Vor dir? <
Die Worte kommen nur schwach aus seinem Mund.
> Vor dem Tod!, < lacht der Riese.
Sie tauchen ein, in die ruhelose Nacht, da draußen. Keine ver-
schlossenen Türen mehr; keine Mauern. Nur weite, leere Straßen.
Kühle streift die geschundene Haut.
> Vor dem Tod? Nein, nur vor der Dunkelheit...< Er ist sich jetzt
ganz sicher. > Nein, < wiederholt er.
Sie kommen an den Ortsrand. Die letzte Straßenlampe vor der Fins-
ternis...Er öffnet die Augen nochmal ganz weit; sieht einen Riesen;
würdevoll und weiss, wie frisch gefallener Schnee. Das Haar des
Riesen ist aus Licht; weich schimmerndes Licht. Wie warm es ist,
dieses lange Haar, und leicht, wie Seide. Das Gesicht des Riesen...
jetzt kann er es sehen...schmal, mit einer steil nach oben zeigenden,
spitzen Nase. Die Augen sind voller Güte - klar, grün, wie ein Wald-
see im Frühjahr. Der lächelnde Mund, wie der von...wie hieß sie
noch? Gabi...Aber die Gestalt ist nicht Gabi. Die würde ihn niemals
so sachte auf Händen tragen. Der weisse Riese schon. Das kann nur
er....Alle Erinnerungen verglüht.
Der Moment des letzten Atemzuges ist da.
Sein Herz hält an.
Sie lassen die Stadt hinter sich; gehn über dunkle Felder davon;
durch dunkle Wiesen und Wasser; immer weiter...bis der Horizont
sich wieder lichtet und ein neuer Morgen beginnt. Ein neuer Tag....
 
 
> Er kommt zu sich, < sagt eine angenehme Stimme.
Ich öffne die Augen; bin schlagartig zurück, in der hässlichen Wirk-
lichkeit.
> Papa? <
> Dein Papa ist tot, < behauptet die Schwester. Sie wischt mir
Schweiss unter den Augen weg. Oder Tränen. Dann verlässt sie das
Krankenhauszimmer.
> Er ist nicht tot!, < brülle ich ihr nach. > ...ist nicht tot. Niemals!<
Dann ein Flüstern.
> Papa? <
Das Geflüster - nur ein Knacken.
Gespenstisch schön.
 
 
                                                                   

Stehn (liegen) die Verstorbenen Schlange, oder warum dauert es
sechs Wochen, bis Paps' Asche aus Schwerin beikommt?
So ähnlich - der zuständige ‘Einheizer’ war in Urlaub, und sein
Stellvertreter machte ebenfalls Urlaub - auf  Krankenschein. So-
mit ruht der Bestattungsbetrieb erstmal.
Ende November trudelt die Urne dann endlich ein. Die Trauerfeier
kann beginnen. Trauerfeier...Trauern, ja. Feiern fällt aus.
Mieses Wetter. Es schüttet wie aus Eimern, als ich die Urne in die
Friedhofskapelle trage. Paul sitzt an meiner Seite; dahinter etwa
zwanzig Leute, die er größtenteils hierher abkommandiert hat. Für
einen Kranz hat er auch gesammelt. Ein bisschen Kleingeld noch
für mich, wie er sagt.
Wir beten nicht; sitzen da; nachdenklich, brummelnd, weinend.
Nach der Andacht stapfen wir an die matschige Grube. > Feiner
Kerl, dein Oller, < nuschelt Paul; drückt mich an sich.
Ich setze die Urne ins Loch. Wind peitscht den Regen umher.
Klatschnass sind wir; auch diejenigen, die unter Schirmen Schutz
suchen.
Der Gräber will schon anfangen, das Loch zuzuschaufeln. Kein
Wunder, bei dem Mistwetter. Trotzdem reiße ich ihm die Schippe
aus der Hand; schleudere sie sonstwohin. Er glotzt blöd; knurrt
sich was in den Bart und verschwindet einstweilen ins Trockene.
Auch Erna und Oma Bruse machen sich dünne. Zurück bleiben
Pauls Mannschaft, zwei Werftkollegen und meine Wenigkeit.
Dann geschieht etwas, das ich nicht vergessen werde...Irgendwer
nimmt seinen Nebenmann an die Hand. So geht das reihum. Ein
Kreis entsteht; die Hände fassen fester zu, als könne der strömende
Regen uns nichts anhaben. Alle Blicke zur Kreismitte - da, wo die
Urne langsam im Matsch untergeht. Keiner geht wirklich unter, so
lange er in den Köpfen bleibt. Liebe ist stärker als der Tod. Sie ge-
winnt immer...Hilfe, wie kitschig!
Na und, drauf gepfiffen! Manches lässt sich eben nur so umschrei-
ben - schlicht und ohne Gedöns.
Siebzehn Gestalten. Kollegen, Kumpane, Säufer; nass bis auf die
Haut, stehn im Kreis und schweigen. Der Wind brüllt sie an, knickt
Geäst und Kreuze, schleudert Dreck umher. Doch der Kreis
schliesst sich fester. Wir frieren, sind traurig, stehn knöcheltief im
Matsch.
Einer macht schließlich schlapp; schnauzt, > Schweinekalt! Ich hau
ab! <
Soll er doch.
Bleiben sechzehn. Die bleiben lange - so lange der Regen anhält.
Dann ziehen auch sie davon; Richtung Hafen; Schnaps, Wärme,
vielleicht auch Trost tanken.
Ich bleibe; stapfe in die Kapelle, greife in die mitgebrachte Ar-
beitstasche; zieh’ ‘ne Flasche rauf. Zurück, ans Grab. Ein Schluck
für mich, einer für Papa, einer für mich....
Die Kälte kann mir nichts mehr anhaben. Werfe das nasse Zeug zur
Seite, tanze oben ohne und barfuss um die Urne. Dreckfontänen
fliegen mir um die Ohren, und eisiger Wind. Die Haut ist taub.
Zigeuner tanzen auch, wenn sie traurig sind; tanzen bis zur Ohn-
macht; lachen, trinken vom Seelentröster; tanzen weiter, bis sie
zu schwach sind und weggetragen werden. Wenn er stehen kann,
kommt er wieder, der Zigeuner. Und tanzt ums nasse Grab. Mag
mancher auch denken - passt gut in die Landschaft, der Idiot.
 
 

 

Obenauf.
Der ‘Idiot’ ist wieder auf dem Dampfer. Noch schwankt er betrübt
umher, aber es macht sich.
Bin jetzt öfter bei Paul. In seiner Bude herrscht in letzter Zeit ver-
stärkt Hochstimmung, und Paul sorgt dafür, daß es auch so bleibt.
Anscheinend fühlt er sich verpflichtet, den ‘kleinen Dieter’ bei Lau-
ne zu halten, damit der nicht zuviel Trübsal bläst.
Nett von ihm, doch ich mag diese aufgesetzte Heiterkeit nicht. Habe
die Trübsalblaserei ganz gut im Griff. Das hält Paul nicht davon ab,
dauernd Freigetränke für den ‘armen Jung’, wie er sagt, zu spendie-
ren. Zudem plappert er munter drauflos, sobald ich in Sichtweite
bin; erzählt einen Witz nach dem andern, und lacht selber am meis-
ten drüber. Kann ihn ja verstehen - er mochte Paps, und offenbar
auch mich. Das beruht auf Gegenseitigkeit, nur: wenn er so weiter-
macht mit Spaß nach Ansage, sag ich tschüß, und gehe. Seine Witze
sind jedenfalls so alt, wie er. Die kann ich nicht mehr hören; außer
einen vielleicht. Den erzählt er nur, wenn Willi gerade nicht da ist.
Willi arbeitet auf der Werft; kommt erst nach fünf Uhr hierher. Wa-
rum er den Witz nicht mitkriegen soll, liegt auf der Hand. Er ist die
Hauptperson des Witzes, und der geht so...Kommt einer zum Stan-
desamt, zwecks Eheschließung und gleichzeitiger Namensände-
rung. > Wo drückt der Schuh?, < fragt ihn der Beamte. > Nun ja, <
antwortet Willi. > Ich würde gern heiraten, weiß aber nicht, wen.<
> Nanu!, < stutzt sein Gegenüber. > Ist denn noch keine Herzdame
in Sicht? <
> Doch, schon. Vier sind's sogar!<
> Vier? Soso. Dann haben Sie’s wirklich nicht leicht mit der Wahl.<
Der Amtsmann bekratzt sein Kinn. > So viele Freundinnen hat wirk-
lich nicht jeder. Gratuliere. Allerdings, wenn ich die Kehrseite so
betrachte, ist Ihre Lage doch ziemlich ernst, Herr...<
> Gurke. Willi Gurke. Genau das ist ja mein Problem. <
Der Beamte kichert sich eins; fängt sich aber sofort wieder. > Nun,
mein Lieber, das ist noch lange kein Weltuntergang. <
Plötzlich hat er die rettende Idee. > Wie wärs, wenn Sie dasjenige
Frollein heiraten, welches ihren Namen positiv ergänzt? Wenn Sie
die Damen sowieso zu gleichen Teilen lieben, dann nehmen Sie
eben diejenige, die rein namentlich....Erzähl'n Sie mal; wie heißen
die Frolleins denn? <
Zunächst ist Willi baff, doch schließlich findet er die Idee garnicht
mehr so verkehrt. > Nun, < sagt er schließlich, > Meine Favoritin
heißt Hella. Hella Suppe. <
> Suppe, aha, < plappert der Amtsmann. Sein erneutes Kratzen
drückt Skepsis aus. > Nein, guter Mann. Lieber nicht. Suppe und
Gurke machen zusammen Gurkensuppe. Vielleicht andersrum...?
Nein, besser nicht. Und die zweite Dame? <
> Das ist die Resi. Resi Renn, heißt sie. <
> Renngurke. Gurkerenn...Kann man drehn, wie man will. Das ver-
gessen wir lieber gleich. Wie heißt denn unser drittes Frollein? <
Willi strafft sich. > Das ist die Jüngste. Süsse Neunzehn, erst. Hab
ich im China-Imbiss kennen gelernt; sowas von lieb, die Hau...! <
> Hau, also, < fährt der andere dazwischen.> Und der Nachname?<
> Rein. <
> Rein? Ich bitte sie!...Hau Rein Gurke. Also wirklich...Das grenzt
ja an Körperverletzung! Nein, das chinesische Frollein; also...wirk-
lich nicht! Kommen wir zur letzten Dame. <
Willi atmet tief durch. > Die dicke Trudi. Na ja, die ist manchmal
etwas rüde und unbeherrscht, aber sonst ‘ne Gute. Selz ist ihr Nach-
name. <
Der Mann, gegenüber, nickt begeistert. > Selz? Klingt eindrucks-
voll. Ist auch eindrucksvoll, wahrlich! Nur: ich würde Ihnen empfeh-
len, das Selz in Salz zu ändern, und schon haben wir die Richtige
für Sie gefunden!...Na dann, bis bald, Salzgurke. Und vergessen Sie
nicht, die Braut mitzubringen, Sie Glücklicher! <
 
 
Gut gesponnen, Paul - wenn auch ziemlich gemein. Seine Gäste
finden den Witz komisch. Auch ich; jedenfalls zu Anfang. Später
nicht mehr; nämlich, als ich spitzkriege, daß einer in der Bude reale
Vorlage für den Quatsch ist. Der echte Willi Gurke hat’s schon
schwer genug; schuftet den ganzen Tag auf der Werft; trinkt hier
ruhig sein Bierchen; und jede Menge Frolleins hat er auch nicht -
nicht mal eins. Ist nämlich ‘n Schüchterner. Wenn er heimwärts
zockelt, rufen ihm Leute manchmal: > tschau, Willi! < nach. Dann
ist er gut gelaunt und singt sogar vor sich hin. Aber wehe, da kräht
jemand, > hau rein, Gurke! < Dann verstummt Willis Gesang augen-
blicklich und er wird fuchsteufelswild.
Kurz: ich mag keine Witzchen auf Kosten anderer; drum ziehe ich
mich nach und nach aus Pauls Kneipe zurück. Kümmere mich ohne-
hin bald um andere Dinge, die fast in Vergessenheit gerieten. Sind
schon etwas verstaubt, die alten Pläne, doch jetzt kommen sie wie-
der ans Licht; gewinnen Oberwasser.
Zeit, abzuhauen.
Ja, es wird Zeit, zu gehn.
 




Weihnachten

Während Oma im Kartoffelsalat matscht, hört sie Pudhys. Meine
Kassetten hat sie sich gleich nach Einzug unter die Nägel gerissen.
Andere Leute über achtzig gönnen sich Klassik, Schlager, oder Folk-
lore.
Nicht meine Oma. Die muss unbedingt Pudhys hören!
> Die melancholischen Sachen gefall'n mir besonders, < meint sie.
Ich frage, was an Pudhys melancholisch sein soll?
Sie wankt kein bisschen; sagt mit voller Überzeugung: > Du mußt
auf die Texte hör'n, Jung'. Nich’ nur auf dat rammdösige Getrom-
mel! <
> Hol ich bei Gelegenheit nach. Versprochen. <
Trotzdem ärgere ich mich, daß sie meine Kassetten nicht mehr raus-
rücken will. Neuerdings auch Karat, City, Uriah Heep; sogar Led
Zeppelin - zieht sie sich jetzt rein. Und ich muß jedes Mal in die
Küche schlappen, um mitzuhören.
Manchmal hab ich den Verdacht, sie ist nicht nur anders, sondern
auch ein bisschen ballaballa. Bei Omas kommt das - altersbedingt -
schon mal vor. Wär ja auch nicht schlimm. Schlimm ist aber, daß
sie leider nur scheinbar ballaballa - und in Wahrheit völlig normal
ist. Und das bedeutet: die Kassetten sind futsch; beschlagnahmt. Wer
in ihrem Haus wohnt, muß halt Kompromisse machen. Mithörer wer-
den zwar geduldet - Anfragen, zwecks Eigentumsrückgabe, nicht.
 
Während Oma also im Kartoffelsalat herummatscht, sitze ich in
Reichweite und grübele derweil über ganz andere Sachen nach -
nämlich darüber, welcher der kürzeste Weg zur Grenze ist....Ost-
see....Das hatten wir schon. Muskelkrampf? Nee, danke. Bleiben
nur Luft - oder Landgrenze. Durch die Lüfte wär nicht schlecht;
nachts, als Fledermaus; merkt kein Schwein. Komm wieder run-
ter, Flattermaus....Moment! Bin noch nicht fertig. Flugzeug...Schön,
nur lande ich damit bestimmt nicht in Hamburg, sondern am Later-
nenmast auf Ostseite, unfähiger Pilot, der ich bin.
Schade. Also, über Land. Rennen kann ich. Bin vielleicht etwas au-
ßer Form, aber den lahmarschigen Grenzern flitze ich allemal weg.
Werde glatt größenwahnsinnig, so sicher wie ich schon in Hamburg
bin! Diesmal bin ich schneller, als alle. Hacken gewetzt; los, und
tschüss, ihr Arschgeigen! Mist, der ist uns durch die Lappen gegan-
gen, können die nur noch staunen. Hab nur ‘n Strich geseh'n...
Zischsch, weg war der!
Ha, die kriegen mich nie!
 
> Oma? <
> Deck ma’ den Tisch, < sagt sie, ohne auf das Fragezeichen zu
achten.
Ich decke.
Wir essen. Pferdebockwurst und in Mayonnaise ersoffene Kartof-
feln. Nächster Versuch.
> Oma? <
> Nu’ ess man ollich und red nich’ soviel!, < mahnt sie.
Sagts und klatscht sich die dritte Fuhre auf den Teller. > Lecker, ne?
Dein Großvatter hat davon allein ‘ne Schüssel weggeputzt! <
Stimmt. Deshalb war er ja auch ein Zweieinhalbzentnerbrummer,
denke ich.
> Der Oppa konnte reinhaun!, < redet und schmatzt sie gleichzeitig.
Kleines Bäuerchen. Pardon.
Letzter Versuch. > Oma, ich wollte dich fra....<
> Sag ma’, hast du eigentlich schon das Grab vom Vatter abge-
deckt?, < saust sie dazwischen. > Nich’ dat uns der Dieter erfriert,
bei dem Schietwetter. <
> Hab ich, Oma. <
> Büst ‘n fein’ Jung. <
Sie lächelt; wuschelt meine Mähne.
> Deine Haare könnste auch ma’ wieder schneiden lassen. Siehst ja
aus, wie der...na, wie heißt der noch? <
> Jimi Hendrix? <
> Genau. Wie der Jimi Dingsbums siehste aus. <
> Das ist jetzt Mode, Oma. <
> Nee, was ihr Bengels für Modefimmels an Leib habt! <
> Wenn du meine Kassetten einkassierst, kann ich auch wie Jimi
Hendrix rumlaufen! <
Das sitzt. Eingeschnappt ist sie nicht - jedenfalls nicht viel. Trotz-
dem räumt sie ihren Stuhl; wackelt nach nebenan.
Laufe ihr nach; setz’ mich neben sie, auf die Couch, streiche ihr ein
paar Haarsträhnen vom Gesicht. > War nich’ so gemeint, Oma.
Schenk ich dir, die Kassetten. Wenn’s denn sein muß... Aber nur un-
ter Protest! <
Da ist es wieder, das breite Lächeln. Sie schubst mich sanft. > Kuck
ma’ in die Schrankschublade. Ganz oben...! <
Da liegt seit Ewigkeiten Opas alte Landkarte drin. Weiß ich längst.
Eine Karte, auf der jedes noch so kleine Kaff drauf ist, und die Opa
zeitlebens nur ungern aus den Händen gab.
> Ohne Brille sieht der Oppa sowieso nix unter der Erde, < maka-
bert sie. Dann verschwindet das Lächeln plötzlich. > Denkste, ich
merk nich’, dat du dauernd heimlich am Schrank rumschleichst,
wenn ich min Schönheitsschlaf mach?...Deine Oma is’ nämlich
noch voll auf Zack! <
Kann man wohl sagen. Der ‘ Ertappte’ zeigt Reue. Das gefällt ihr.
Sie schenkt mir Opas vergilbte Karte, obwohl sie weiß, was ich da-
mit vorhabe. Ziemlich doof  - nein, clever; weil ihr klar ist, daß dies
unser letzter, gemeinsamer Winter wird. Vielleicht der Allerletzte...
Oma ist alt; zwar noch rüstig, aber man weiß ja nie. Und wer weiß
schon, wieviele Winter vergehen, bis ich wieder hierher einreisen
darf. Dann ist Oma steinalt, oder schon bei den Engeln.
Trotzdem schenkt sie mir die Karte - nicht um mich loszuwerden,
sondern um mich loszuschicken. Dazu fällt mir nur Folgendes ein:
Großmütter wissen, wo der Hammer hängt.
 

Wir flegeln uns auf der Couch.
Oma schläft. Ich studiere die Karte.
Sie streckt die Beine lang. Ich mache Platz; studiere unten, auf dem
Teppich weiter.
Oma schnarcht.
Ich gähne. Mein Kopf trudelt; rollt auf ihren Bauch. Besser als je-
des Kopfkissen, der Bauch. Rund und weich.
Augen zu. War was Besonderes, heute? Ach ja, Weihnachten. Oma
hält nicht viel davon, seit Opa im Sarg schläft. Ich auch nicht. Trotz-
dem feierliche Stille in der Stube. Wie ‘ne Kirche, wo keiner mehr
hingeht, weil es reinregnet. Nur Knarren im Dachgebälk. Und Omas’
sonores Schnarchen. Sonst nichts.
Augen fest zu. Ich zähle Grenzsoldaten. Ein Grenzsoldat. Zwei
Grenzsoldaten. Drei Grenzer. Hoppla, ein Flüchtling!... Noch ein
Grenzsoldat....
Blöde Zählerei. Wird man ganz meschugge von.
Omas große Hände rutschen längsseits. Zähle die Linien, darin.
Und schlafe ein.
 

 

 

 

Sommer 1981.
Landgrenze bei Gadebusch.
 
Mühleneichsen. Das letzte Kaff vor der Grenze. Wie ausgestorben.
Etwa zwanzig Häuser, links und rechts der Straße. Kein Piep zu hö-
ren. Kein Mensch zu sehn.
Der nächste Feldweg ist meiner. Schnell - denn die Straße ins Dorf
ist viel zu gefährlich - kann man förmlich riechen. Fremde fallen
hier auf, wie Störche in Gummistiefeln.
Spätnachmittag.
Hitze und Staub. Die Zunge klebt am Gaumen; die Klamotten durch-
schwitzt. Keine Abkühlung in Sicht. Kein See, kein Bach; nicht mal
Schatten. Nur kahle Felder und Wiesen, wo verdorrtes Gestrüpp
statt Grashalme rascheln. Die pralle Sonne hat alles im Würgegriff.
Und die Stille wirkt auch nicht gerade tröstlich.
Später, als eigentlich geplant, erreiche ich gegen acht die unmittel-
bare Sperrzone. Zunächst ein schlichter Koppelzaun. Dahinter unbe-
kanntes Dreimeilengebiet. Da wird sich alles entscheiden - Freiheit,
oder Knast. An Leben oder Tod will ich garnicht erst denken.
Ein großes Schild warnt: Halt! Sperrzone. Minengefahr! Spen-
diert vom Rat der Stadt Gadebusch - die Minen, oder das Schild...?
Krieche ins hohe Gestrüpp vor dem Zaun; warte, bis es dunkel wird.
Gehetzte Blicke. Die Gegend hinter'm Zaun ist so gut wie ganz ab-
geholzt. Nur zwei Bäume, ein paar Büsche. Ansonsten weit und breit
brauner Schotter.
Hundegekläff. Im Doppelpack. Schließlich kläfft es im Chor. Auch
das noch...! Garantiert haben die den Muff meiner Socken schon in
den Nasen.
Zaghaftes Strecken...Da hinten sind sie; knappe huntert Meter, hang-
abwärts. Zum Glück laufen die Kläffer an langen Leinen; immer
hin - und her, als ob ich ‘ne Bullette wär, die früher oder später so-
wieso vorbei kommt.
Komm ich auch; hab aber nicht vor, mich ausgehungerten Tölen zu
opfern. Harmlos sehen die Biester jedenfalls nicht aus.
Halb so wild. Mir wird schon was einfallen, heil durch zu sprinten.
Schlimmer sind die Minen...Hunde beissen nur in Flicken, aber Mi-
nen fliegen in die Luft - und ich mit, wenn es ganz dicke kommt.
Grenzer sind nicht zu sehen. Die werden noch früh genug auftau-
chen, schätze ich mal. Irgendwo lauern die Typen - hinter einem
Busch; vielleicht im Busch, oder in einer Senke, daneben. Jeden-
falls ist was im Busch....Hinter der Hundetrasse blitzen Metall und
Glas in der Sonne. Ein Turm. Kein wackeliger Hochstand für schiess-
wütige Jäger, sondern ein richtig massives Ding aus Stahl, Glas und
Beton. So ein Ungetüm brauchen Jäger nicht. Denen genügen einfa-
che Holzlatten und Nägel, um von oben Säuen und Hirschen aufzu-
lauern.
Der Turm da eignet sich besser zum Aufspüren von ‘Republik-
schweinen’. Flutlicht an. Ja, wo laufen sie denn? Aha! Zielen. Peng,
und die ‘Sau’ ist hin. Mir wird (sau-) schlecht, wenn ich nur dran
denke! Sollte besser abhaun; den Rückzug antreten, undzwar so bald
wie möglich! Noch ist Zeit - nicht viel, aber genug, um nicht als
Grenztrophäe zu enden. Später kann zu spät sein...Kenne ja nur die
Wassergrenze. Garantiert ist es über Land nicht minder schwerer,
ein Schlupfloch zu finden.
 

Die Sonne geht unter. Im Westen. Da, wo ich hin will. Ein lohnen-
der Anblick. Hier sitze ich schon im Halbdunkel, doch da hinten
steht die Landschaft in Flammen - nicht wirklich; die Abendröte
spielt nur mit ihr. Da geht's lang. Dem Licht nach!
Wenn alles klappt....Was heißt hier, wenn?! Es klappt, und basta!
Wenn nicht, sagen sie Oma Bescheid. Auf der Flucht erschossen...
Der übliche Mumpitz. Und Oma wird sich hüten, Fragen zu stellen.
Ansonsten redet sie ja frei Schnauze, aber Todesgesandte beant-
worten grundsätzlich keine Fragen - erstrecht nicht, wenn sie von
der Stasifraktion sind. Die spulen ihren Spruch ab und ziehen Leine.
Und wehe, Oma kriegt die Krise und schreit den Davoneilenden
Frechheiten nach. Dann landet sie auch im Knast. Staatsfeindliche
Hetze nennt man das; selbst wenn Oma nur: > Schweinebande! <
oder Ähnliches brüllt. Schließlich sind Stasileute beim Staat ange-
stellt; weiß ja jeder. Beleidigst du die, beleidigst du die ganze Käsere-
publik. Kannst froh sein, wenn du noch Koffer packen darfst.
 
Die Sonne ist weg. Blaue Stunde, die nur knapp dreißig Minuten an-
hält. Dann ist es duster.
Lauter werdendes Hundegeheul. Drüben, auf dem Wachturm, tasten
Flutstrahler im Kreis herum. Bloß nicht in den Bereich kommen...!
Auf die Beine. Los!
Osten oder Westen ? Denk’ gut nach...
Einen Schritt ostwärts. Anhalten. Zwei nach Westen. Drei, viermal
dasselbe Gezauder. Osten verliert schließlich, weil da mehr Kuh-
scheisse liegt.

Der erste Zaun. ‘ne Lachnummer. Locker überspringe ich ihn.
Die Hundetrasse. Schon schwieriger. Hemd ausziehen, die rechte
Hand damit einwickeln, für den Fall, daß die hungrigen Biester zu-
schnappen.
Hackengas! Und durch!
Glück gehabt. Die Hunde kläffen zwar in meine Richtung, sind
aber im entscheidenden Moment durch das Turmlicht geblendet.
Weiter in hohem Tempo. Die Orientierung ist eine Sache für sich.
Laufe praktisch der untergegangenen Sonne hinterher und hoffe,
daß die Dreimeilenzone irgendwann zu Ende ist. Zunächst Rich-
tung Wachturm - großer Bogen! - dann geradeaus weiter.
Stolpere über ein Hindernis am Boden; falle aber nicht auf's Maul.
Weiter, los! ! 10,9 Sekunden über hundert Meter...Sind heute nicht
zu knacken, wegen unebenem Gelände. Knapp über 11 Sekunden
wären auch nicht übel. Eher zwölf, wegen mieser Sicht und erhöh-
ter Vorsicht.
Wenn es nur die lausigen hundert Meter wären!...Fünfeinhalbtau-
send sind es! Die flitzt du nicht locker und gleichmäßig schnell
durch die Landschaft; schon wegen der Fallen, die überall lauern.
Apropo...das kleine Bodenhindernis, gerade - das war so eine Falle.
Klingeldraht....Oben, auf dem Wachturm, regt sich munteres Trei-
ben. Die Lichtfluter vergrößern ihren Radius. Stimmen sind auch
zu hören.
Jetzt aber weg hier! Nur - wohin?
Da, die Umrisse eines Buschs...!Hechter, und rein! Leider Dornen-
gebüsch. Piekt sogar durch die Unterhose.
Egal!
Am Turm passiert Wichtiges. Vier Grenzer stürmen ins Freie, sprin-
gen auf einen Jeep; suchen die nahe Umgebung ab.
Sie finden mich nicht. Etwa eine Stunde später kommen sie zum
Turm zurück.
Sicherheitshalber warte ich, bis alle Vier im Inneren verschwunden
sind.
Jetzt.
Weiter!
Wie weit bin ich schon? Zweitausend Meter? Dreitausend? Brauche
einen Orientierungspunkt. Ohne den ist die ganze Rennerei nichts
wert. Schaalsee. Wo ist der verdammte See, der Niemandsland und
Westseite vereint? Hab ich doch fett auf der Karte angekreuzt!

Da ist er! Endlich! Schaalsee heißt: bald! Heißt: frei sein! Die
schwach flimmernden Ufer ziehen mich magisch an. Komm...Na,
komm!
Na klar komm ich!
Vielleicht noch vier - fünfhundert Meter. Rennen, weiter, los!
Plötzlich ein größeres Hindernis im Dunkel. Elektrozaun...Scheisse!
Was jetzt? Buddeln? Unten durch?
Vergiss es. Dauert viel zu lange.
Auf ihn, mit Anlauf!
Geschafft.
Laufen.
Bin keine hundert Meter weit gekommen; und schon der nächste
Zaun; höher als der, vorher. Grelles Flutlicht, dahinter. Jetzt muß
alles noch schneller gehn...Kann aber nicht schneller; krieg’ ja fast
keine Luft mehr.
Mach voran, Schlappschwanz! Oder willste kurz vor'm Ziel aufge-
ben?!
Blöde Frage. Selten blöde Frage...
Na denn, vorwärts!
Ungefähr drei Meter ist der Zaun hoch. Ein paar Drähte reissen.
Sofort wird Alarm ausgelöst.
Keine Deckung mehr. Nur grelles Flutlicht. Und Verzweiflung...!
Statt zu rennen, fummel’ ich an den roten Alarmlämpchen herum;
will das nervige Gejaule abstellen; rüttle am Zaunpfosten; ratsche
am Lampenglas.
Völlig sinnlos. Total idiotisch! Hinter mir ist längst Gefahr im An-
flug...! Während ich zerre und rüttel', hallen die ersten Warnrufe
umher.
> Stehnbleiben! <
Die Stimmen holen mich aus der Lethargie. Trottel, elender! Hälst
dich mit den Scheisslampen auf und merkst nicht, daß wertvolle
Zeit flöten geht. Na los, du Pfeife! Mach endlich hinne!
Die Stimmen kommen näher.
Weiter. Irgendwie weiter!
Die Beine brennen; eiern schon.
Vergiss die Beine. Kopf einschalten. Der Wille ist stärker! Los, ihr
lahmen Stelzen!
> Stehnbleiben, oder ich schiesse!, < schreit jemand.
 
Höre ich nicht.Will ich nicht hören.
Da, der Zaun! Der Allerletzte! Nur noch ungefähr fünfzig Meter...
Vierzig.
Ein Schuss.
Daneben.
Ich laufe!
Dreißig Meter.
Zwanzig.
Zwanzig Meter können so verdammt lang sein...
Laufschritte im Rücken. Gleich haben sie mich...Was ist los, Super-
sprinter?! Biste zu langsam, oder sind die andern zu schnell?
Beides - leider. Der Supersprinter ist ausgepowert; hat nichts mehr
in petto. Gehen, statt laufen. Taumeln. Nach Luft japsen.

Der Zaun! Hände, die zupacken; hochziehen; noch mehr ziehen. Los,
höher!
Höher geht nicht...Da drüben, der See. Keinen Steinwurf weit. Seine
Ufer glänzen. Und meine Augen glänzen. Der Rest glanzlos; kaputt.
Schaffe es einfach nicht, den verdammten Zaun; die letzte Hürde, zu
bezwingen.
Eine Hand packt meinen linken Fuss.
Nicht nach unten sehen. Du mußt nach oben. Komm schon, hoch!
Kennste das...? Sitzt ‘ne Fliege mit Höhenangst auf dem Schrank und
weiß nicht, wie runterkommen...Du bist der Einzige, der sie retten
kann; also gibst du dein Bestes. Du reckst dich; streckst den Arm
aus; öffnest die Hand. Die Fliege sieht dich kommen - sieht, daß du
ihr so nah bist, wie nie ein Mensch je war...Du spreizt den Zeige-
finger ab. Na komm, setz dich drauf, Summse. Dein Finger streift
sachte einen Flügel; schiebt sich unter sie. Alles scheint glatt zu
laufen. Doch plötzlich wird der Summse schwindlig, und durch dei-
nen Rücken jagt ebenso plötzlich höllischer Schmerz, weil hinter
dir einer steht, der auch an die Fliege ranwill. Vor dem hat sie Angst,
weil er mit ‘ner Fliegenklatsche bewaffnet ist...Er schlägt zu. Erst
dir ins Kreuz. Du sackst zusammen; fällst hintenüber; fällst und
fällst. Und während du in ein schwarzes Riesenmaul fällst, siehst
du noch, daß er die kleine Summse kalt macht. Und du fragst dich,
warum ist die Fliege zu doof zum Fliegen, warum ist der Schrank
ein Drahtzaun, und die Fliegenklatsche ein MPI-Kolben...?
 
Bist viel zu down für solche Fragen; knallst rückwärts auf Schotter
und sagst der Freiheit: gute Nacht.
Träum schön weiter, Versager.
Träumen?
Aus, der Traum.
 

 

 

Strafvollzug Neustrelitz

Zwei Jahre und drei Monate. Siebenundzwanzig Monate. Sieben-
undzwanzig Mal dreißig Tage für den zweiten Fluchtversuch. Dies-
mal im schweren Fall, weil ich Wiederholungstäter bin.
> Falls der uneinsichtige Gesellschaftsschädling (so der trashige
Richter in seiner Urteilsbegründung) nach der Haftverbüßung im-
mer noch beabsichtigt, wegzulaufen, werden wir das zu verhindern
wissen.... <
Die ganze Latte Zusatzparagraphen hat der mir aufgebrummt. Täg-
lich zweimal bei den Vopos melden. Kein Ausweis, dafür die
PM 12 - Ersatzkarte ( zweiblättriger Wisch, anhand dessen jeder
Ordnungshüter sofort das ‘Republikschwein’ erkennt). Damit kann-
ste kreuz und quer im Bus fahren; durch die Stadt, von einem Ende
zum andern. Fährste weiter, biste am Arsch und wieder im Bau. Au-
ßerdem wird der Arbeitslohn einbehalten und nach Bedarf locker
gemacht - wenn, beispielsweise, was zu Futtern gebraucht wird.
Mehr ist nicht drin, denn man könnte ja mit der Kohle abdüsen.
Ohne Geld düste nirgendwohin, so auf die Schnelle.
Was noch?
Reicht das nicht? Also, mir reicht das voll und ganz. Eigentlich ‘ne
tolle Gelegenheit, seine Heimatstadt in - und auswendig kennen zu
lernen. Aber auf die Dauer wird es langweilig, vermute ich mal.
Im Ernst - zweimal täglich melden, keine Mark für Sonstiges im
Sack und den PM 12 - Fetzen für freies Atmen - da kann ich auch
gleich hierbleiben, oder mich bei den Vopos einquartieren.
Insgesamt betrachtet sind meine Chancen, draußen neu anzufangen,
ziemlich miserabel. Beschissen ist wohl treffender, doch das biss-
chen Zuversicht muß gewahrt bleiben, weil ja vor draußen erstmal
drinnen kommt, und das kann hier, in Strelitz, verdammt lange dau-
ern. Dreißigmannzellen sind hier die Regel. Einmannzellen eben-
falls. Dazwischen ist nichts. In den Massenzellen hausen Männer,
denen vieles egal ist - eher alles. Die Einmannzellen hingegen wer-
den - meist für längere Zeit - von eigenartigen Gestalten bewohnt:
Subjekte, die sich pardu nicht anpassen wollen und praktisch alles
ablehnen. Arbeit, Hofstunde, Essen; sogar die ‘ Rotlichtbestrah-
lung’ am Wochende. Da kommt so ein alter Herr mit Bonbon am
Jackett, der aus Verbrechern lauter gute Menschen formen will -
selbstverständlich im Einklang mit seinem ‘Bonbon’ und der Par-
tei, die draufsteht.
Der Alte hat immer viel zu erzählen. Anfangs höre ich ihm gespannt
zu, weil man ja für jede Abwechslung dankbar ist. Der Alte redet
und redet, und nach zirka zwei Minuten ahne ich schon, was er denn
zu sagen hat.
Was solls. Schwamm drüber. Er ist alt. Alte Leute sind zuweilen
kauzig und wiederholen sich des öfteren. Jedenfalls kann man deut-
lich erkennen, daß seine Segelohren vor Erregung wackeln, wenn
er Vater Staat lobt, weil der sogar Arschlöchern, wie uns ( das sagt
er freilich nicht wörtlich - nur sinngemäß ) noch ‘ne Chance gibt.
Eigentlich nett von Vater Staat, daß er sich kümmert.
Nur - wen kümmerts?



Allein. Seit gestern bin ich Allesverweigerer. Dem zu Folge schmore
ich auch da, wo ich hingehöre - in Einzelhaft.
Macht eigentlich keinen Sinn, hier irgendwas zu verweigern. Aber:
wenn schon kein Sinn, dann wenigstens Unsinn.
Na ja, meiner Zuversicht ging’s schon besser. Vielleicht wird das noch.
Da bin ich nun...glotze nach links; suche Tröstliches in der Zelle; und
was sehe ich? Den viel zu kleinen Blecheimer...bloß nicht draufsetzen!
Besser stehnbleiben, oder in die Hocke; unbedingt an der Wand ab-
stützen - zielen; dann scheissen.
Glotze nach rechts... Irgendwas Erbauliches?
In die Wand gemauerter Klapphocker. Eingemauerter Tisch. Punkt.
Ach ja, nicht zu vergessen: Wände. Vier an der Zahl; mattweiss und mit
vielen Strichen und Sprüchen verziert. Natürlich beginne ich sofort
damit, die Spuren aller Vorbewohner intensiv zu studieren. Nach
schätzungsweise zwei Stunden bin ich damit durch. Flegel’ mich auf
dem harten Hocker und überlege, ob ich mich auch verewigen soll -
Striche vielleicht. Jeder Tag ein Strich.
Nee, das könnte mich sehr deprimieren. Müsste ja vorangegangene
Hafttage mitzählen. Blicke da sowieso nicht mehr durch. Und außer-
dem: Schreibzeug ist keins da. Spätestens bei Strich soundso wären die
Fingernägel hin.


Zeit ist relativ. Hab unendlich viel Zeit. Und Ruhe. Jesses, was ‘ne Ru-
he! Da kommt man auf seltsame Ideen. Sport treiben, zum Beispiel.
Daran wird jetzt konsequent gearbeitet. Kniebeugen, Liegestütze, Hand-
stand, Kopfstand, Schattenboxen, Fahrradfahren liegend - ich schone
mich keinesfalls; dulde keinen Widerstand, seitens drohender Muskel-
beschwerden!
Pausen? Ja, ab und an; aber nur wenn die Puste zu knapp wird. Muss
höllisch aufpassen, daß für Nachschub an Frischluft gesorgt ist. Heute
früh betete ich zum ersten Mal, daß sich kein Vogel in dem schmalen
Luftspalt, der nach draußen führt, verirrt. Dann hat er die ganze Frisch-
luft, bevor er stirbt - und später sterbe ich; ohne Frischluft; dafür an
Fäulnisgasen. Lieber Gott, häng’ von mir aus Umleitungsschilder in
den Wind. Oder Vogelscheuchen.



Ich spiele Grenzgänger. Weil das Zellenlicht immer an ist, kann man
dieser Beschäftigung Tag und Nacht fröhnen.
Zunächst der theoretische Teil - die Zelle nach Schritten ausmessen.
Vier lang; drei breit. Wie weit war es nochmal von Wismar nach Bol-
tenhagen?
Etwa fünfzehn Kilometer. Wenn ich also...denke, denke...wenn ich
eintausendfünfzig Runden in der Zelle dreh’, bin ich am Ziel.
Immer an der Wand lang; mit der Wand auf Tuchfühlung bleiben.
Seenebel...es war neblig. Das Bild muss ich mir einprägen...!
Los geht's.

Gegen Mittag bin ich schon da. Schade eigentlich, denn meine Beine
sind noch halbwegs gut in Schuss.
Also nehme ich mir nachmittags, oder abends - so genau weiß ich das
nicht - die Strecke Wismar - Mühleneichsen, am Schaalsee, vor. Da en-
dete ja der zweite Fluchtversuch.
Bin zuversichtlich, daß ich diesmal durchkomme...! Na denn...
Die Strecke ist deutlich länger; fordert alle Kraftreserven und Mut, weil
ich auch durch Kaffs latsche, in denen Fremde sofort auffallen. Könnte
ja Umwege gehn, doch die Beine fangen langsam an, zu eiern....Es
dämmert. Muß aber unbedingt zur Grenze, ehe die Nacht kommt. Ren-
nen...Los, vorwärts, ihr lahmen Stelzen!
Die wollen nicht, wie ich will....
Okay. Pause. Eine Minute. Keine länger! Die Wiese am Sperrgebiet....
kann sie deutlich sehen und falle hinein. Der Himmel dreht sich.
Wolken segeln zur Erde.
Hinter einer Pusteblume der erste Grenzzaun....Hundegekläff. Ein
Wachturm. Soldaten. Sie seh'n mich, bevor ich sie sehe...Scheisse,
nochmal!
Stimmen. Motorenlärm....Weiterkriechen! Rieche Blumen - und Ge-
fahr! Höre Schritte, die genau meine Richtung aufnehmen - meine
Spur.
Hoch, und dann rennen, los!....Falle hin. Wieder hoch. Stolpere.
Weiter!
Halt. Der letzte Zaun. Der Allerletzte..!
> Halt!, < brüllt auch jemand hinter mir.
Soll er.
Weiter!
Ein Ballern.
Bin ich jetzt tot?
Nein, nur groggy.
Der Zaun. Hochziehn...hoooochziiiehn! Weiter...!
Es geht nicht weiter.
Eine Hand packt mich. Nocheine. Ich schlage; trete sie weg. Im glei-
chen Moment platzt ‘ne Bombe aus MPi-Holz im Nacken.
Der Schmerz zwingt mich nieder.
Es ist Sommer, denke ich noch.
Ein Bombensommer.
Dann denk’ ich nichts mehr.



Zeit schleppt sich dahin. Warum sollte es ihr besser gehn, als mir...?
Manchmal verschwimmt alles. Habe Mühe, das Wandgekritzel zu ent-
ziffern. Wie lange bin ich hier. Tage? Wochen? Monate? ....Weiß ich
nicht. Ist auch unwichtig. Viel wichtiger ist, daß ich meine Touren lau-
fe. Wismar - Ostsee. Wismar - Schaalsee. Immer nur hin. Nie zurück.
Alles muß ich sehen - jedes Dorf; das kleinste Gehöft; Leute an Fens-
tern - sie winken; wünschen Glück; geben Wasser und Fressalien. Der
Sommer riecht nach Stroh. Und der Nebel am Meer nach Rost.
Das Meer...!
Paps steht mitten im Rauch; die Arme schwer von der Arbeit. Er lacht
trotzdem. Wir lachen zusammen; rennen ins Wasser. Der Nebel ver-
zieht sich. Es ist morgen. Oder übermorgen...Still ist die See. Nicht der
leiseste Wellenschlag.
Kein Boot.
Keine Fragen. Doch; eine. Wann?
Er schubst mich vorwärts.
Morgen. Bestimmt!
Manchmal ist ‘morgen’ eine Ewigkeit....So lange halte ich nicht durch;
verschwinde im Meer. Kann auch sein, daß ich auf festen Boden knal-
le. Höre noch ein dumpfes Bollern, bevor große Stille im Kopf auf-
zieht.


Was ist das für ein Knallen....?
Heller Raum. Keine Zelle. Offenbar Krankenstation - viel frische
Luft, und ein langer Kerl, der mir eine Ohrfeige nach der andern rein-
haut.
Der Anstaltsarzt. Seine scharfe Stimme macht deutlich, daß er äußerst
mieser Laune ist.
> Denn machen wir mal ‘ne Hörprobe...Wie heißen Sie, Strafgefange-
ner? <
Keine Antwort.
> Glotzen Sie mich nicht so belämmert an! Ihren Namen; na, wird's
bald! <
Nächste Klatsche.
Das hilft.
> Schön hell hier, < nuschele ich.
Ihm reicht das Genuschel nicht.
> Schön hell hier...Komischer Name. Hab ich ja noch nie gehört. Nu’
reissen Sie sich mal zusamm’! <
Die miese Laune bessert sich etwas.
> Der Wachtmeister sagte, daß Sie seit fünf Tagen ihr Essen verwei-
gern und mindestens genauso lange wie gedopt in der Zelle rumren-
nen.<
Er kann auch nett sein.
> Mensch Junge, den Blödsinn kannste dir spar'n. Verhungern lass ich
hier keinen; kannste drauf wetten. Wenn mir Hungerkünstler wie du
umkippen, werden sie künstlich ernährt. So einfach is’ das! <
> Künstlich?, < wiederhole ich, noch ziemlich fern aller Klarheit.
Allmählich lichten sich die Schwaden im Kopf.
> Mir egal.<
Sein Ton verschärft sich wieder.
> Is’ dir nich’ egal! Die harte Nummer haben schon zig Leute vor dir
abgezogen. Und später haben die gefressen, wie blöde!...Markier nich’
den starken Mann. Noch kannste zurück! <
Das große Zittern.
> Zurück? Wohin? In Einzelarrest? <
Mein Gezitter ist sein Trumpf.
> Über ‘ne Verlegung in eine Gemeinschaftszelle lässt sich reden...Wie
lange mußte denn noch absitzen? <
> Weiß nicht. Hab aufgehört, zu zähl'n. <
Er grinst; rüttelt mich sachte.
> Is’ noch lange hin, ne?... Denk ma’ gut nach. Sagen wir, zehn Minu-
ten...Kannst dir überlegen, ob du gesund hier raus willst, oder als Klap-
pergestell mit Dachschaden. <
Kurzes Seufzen.
> Wär doch schade, um so’n sympathischen Sturkopp. Wär wirklich
schade drum...Na denn, in zehn Minuten. Und denk gründlich nach! <

Etwa fünf Minuten später kommt sein Gehilfe rein und stellt mir ein
herrlich duftendes Mahl ans Bett. Schnitzel - schön kross, mit Gemüse-
allerlei und Bratkartoffeln.
Ich denk', ich spinne. Dann denk' ich: sieht verdammt gut aus - deutlich
besser, als der übliche Fraß. Schnitzel mit Bratkartoffeln...mmm.
Schmeckt bestimmt lecker!
In den Händen zuckt es. Im Mund sammelt sich Spucke. Und im Ma-
gen knurrt es Klagelieder.
Der Türspion ratscht hin - und her. Die lauern also, ob der Hungerstrei-
kende aufgibt.
Gibt er nicht. Noch nicht.
Ist jammerschade um das gute Stück Fleisch. Trotzdem segelt es, samt
Beilage, klirrend zu Boden.
Das war's. Sie haben verstanden.
Keine Minute danach kommt der Doc gestürmt; ordnet Zwangsernäh-
rung an. Arme, Bauch; Beine werden ans Bett geschnürt. Der anschlie-
ssende Stich in die Armvene schmerzt höllisch! Dann steh ich auf dem
Schlauch; oder besser: hänge dran. Das grünliche Zeug in der Plastik-
flasche sieht entschieden weniger appetitlich aus, als Schnitzel mit Al-
lerlei. Trotzdem nimmt der knurrende Magen es dankbar an und ver-
stummt hörbar.

Zwei Stunden später die nächste Flasche.
Die Fesseln bleiben dran.
Der Gehilfe vom Doc ist nicht gerade ein feinfühliger Mensch. Zwar
ist er auch Strafinsasse, doch das hält ihn nicht davon ab, mich hin -
und wieder zu piesacken. Mal hängt er mein grünes Fresschen so an
den Haken, daß es doppelt so lange dauert, bis es leer ist. Mitunter
fuhrwerkt er brachial an der Armkanüle herum, weil sie angeblich nicht
so funktioniert, wie sie funktionieren soll. Und dazu grinst er. Wenn
er das tut, sieht er aus wie Ratte mit Schlappohren. Offenbar ist er sehr
glücklich, wenn er Mitgefangenen Schmerzen zufügen kann.
Nach dem vierten Tag im Krankenrevier vertraut er mir an, daß er Kin-
der gequält hat, bevor sie ihn eingesperrt haben. Dabei blitzt es in sei-
nen Augen. Das plötzliche, irre Kichern jagt mir eine Scheissangst ein!
Genau in dem Moment weiß ich, daß er ‘größere Kinder’ auch zum
Quälen gern hat...Diese deprimierende Feststellung bringt alle meine
Vorsätze zu Fall.
Am siebten Tag beende ich den Hungerstreik - nachdem Jupp - so
heißt der Idiot - mir zum xten Mal ‘ne deftige Fleischmahlzeit ans Bett
serviert. Ich mache mich überfallartig darüber her - stopfe und stopfe!
Der blöde Jupp lacht wiehernd; und sein Chef auch. Irgendwie hab ich
das Gefühl, daß sie das Ganze ziemlich witzig finden. Ist es ja auch,
denn ich schmatze wie eine Sau - fresse; stopfe rein, was ins Maul
passt. Würde am liebsten drei Teller, oder das Doppelte wegfressen.
Soll'n sie lachen. Ich fress mich einmal richtig satt, und dann nichts wie
weg, von hier! Egal wohin, bloß nicht zurück, ins Krankenrevier! Ein
Kopfkranker reicht da vollkommen.



Alles wie gehabt. Bin in vertrauter Umgebung. Der Doc hat mich schön
verarscht. Von wegen ‘Verlegung auf Gemeinschaftszelle’. Nix ist.
Wohne im selben Einzeltrakt, wie vorher. Nur hab ich jetzt die Luxus-
ausstattung. Das Klo hat Spülung, und ein Waschbecken ist auch da. So-
gar ein Spiegel ist vorhanden; der ist halbblind, weil völlig versifft; aber
immerhin. Da starre ich rein - und was ich sehe, sieht aus wie ‘ne Mi-
schung aus Vogelspinne und Zombie. Im Gesicht sind Haare gewach-
sen - Unmengen Haare. Die meisten sind grau - vor allem die um Stirn
und Schläfen. An Kinn und Oberlippe hat sich bartähnliches Gestrüpp
entwickelt, das einem geplünderten Erdbeeracker alle Ehre macht. Ich
sage ‘Erdbeeracker’, weil die großen Eiterblasen, dazwischen, die lie-
gengebliebenen Erdbeeren sind. Daran ist wahrscheinlich das grüne
Glibberzeug Schuld. Wer weiß, was da außer Ungesundem noch Ge-
sundes drin war.
Allmählich wird klar, daß der Typ im Spiegel unmöglich ich bin. Und
wenn doch, dann sollte ich den Türaufundzuschließer schnellstens fra-
gen, ob er Schere und Rasierzeug besorgt, damit alle Vermutungen
beweisbar sind.
Das tue ich. Etwas später kommt dann tatsächlich hinter den dicken
Eiterbeulen ein bekanntes Gesicht zum Vorschein. Zwar hat es an Far-
be verloren; auch an allgemeiner Lebensfreude und Sehkraft, aber das
wird schon wieder. Es muß werden. Sonst ist es aus.
Gibt es Zombies eigentlich nur im Film?


Marschiere wieder die Zelle auf und ab. Nicht mehr so schnell; eher im
Schleichgang. Es treibt mich. Irgendwas drängt mich, weiterzulaufen.
Freiwilliger Zwang, sozusagen. Hetze durch Landschaften, die mir
fremd sind. Stockduster ist es da draußen; ohne den kleinsten Licht-
schweif am Horizont. Das Meer ist verschwunden; der Sommer vorbei.
Die Luft riecht nach nichts - und das Essen, das ich zwischen den Tou-
ren schaufle, riecht und schmeckt genauso - nach nichts. Mittags Suppe
aus Kohl, oder madenweisse Bohnen mit viel Wasser und wenig Fett-
augen. Fleisch? Das war mal. Zuviel Fleisch ist ja auch ungesund. Im-
merhin gibts sonntags Pellies mit Quark. Das stopft ungemein und
mischt den Magen auf. Einmal richtig kotzen; schon herrscht wieder
aufgeräumte Leere in der Bauchgegend. Kacken gespart.
Der Fairnis halber, muß erwähnt werden, daß es morgens und abends
Brot gibt. Zwei Stullen pro Fütterung; dazu ein Scheibchen Wurst oder
Käse, und ein Klacks Margarine. Ach ja, der Muckefuck; allseits be-
liebter Harntreiber. Den gibts in großen Kannen; also genug, um sich
satt zu trinken.
Das Essen wär sicher üppiger, wenn nicht andauernd Ausreiseanträge
statt netter Briefe an Verwandte beim ‘Sicherheitsonkel’ der Anstalt
landen würden. Er macht deutlich, daß ihn die Schreiberei an Erich
und Co. ziemlich nervt und daß ich ab sofort kein Papier mehr kriege.
Schade, denn ich war gerade dabei, die Liste der Adressaten auf erfun-
dene, überregionale Stellen auszuweiten.
Wer ins Ausland schreibt, ist ja praktisch schon von Haus aus Spion;
böser Staatsfeind sowieso. Subjekte dieser Art sollte man beizeiten ab-
schieben - raus damit! - weil Gefahr besteht, daß sie andere, brave In-
sassen anstecken - rechne ich mir aus.
Nur gut, daß ich Doofi nicht weiß, daß man nervige Landsleute auch
anderswie loswerden kann. ‘Um die Ecke bringen’, zum Beispiel. Ich
sitz’ dem Stasifritzen gegenüber; freu’ mich im Stillen, weil er sich är-
gert. Hab aber keine blasse Ahnung, daß mir auch Schlimmeres blü-
hen könnte.
Zum Glück blüht mir nichts. Manchmal siegt Frechheit - oder Dumm-
heit; je nach dem. Ungestraft in die Zelle zurückgesperrt, darf ich un-
gebremst weiterlaufen; darf hemmungslos drauflos rennen; so oft ich
will, soweit, wohin ich will. Bestenfalls mit dem Kopf gegen die
Wand. Je eher die Nervensäge hin ist, desto besser. Lauf, Blödmann,
lauf! Wir tragen dich raus, wenn du fertig bist. Nur zu, Knallkopf!
Wenn du erst deinen Namen vergessen hast, haben wir dich da, wo wir
dich haben wollen...
> Halt! Stopp! Hör auf mit der Rennerei!...Hör endlich auf!<
> Fresse halten! Weiter gehts. Los! <
>Hör sofort auf! Ich befehl’ dir, anzuhalten! <
> Wie rührend, deine Fürsorge, Kamerad....Nix is’. Es geht weiter. Im-
mer weiter...<


Ich schaffe es, aufzuhören. Nicht gleich. Erst viel, viel später. Doch ich
packe es.

 

 

Birgit

Es klopft an der Zellenwand. Zweimal.
Ich zucke zusammen; horche.
Wieder das Klopfen. Neun Mal; kurz hintereinander. Dann achtzehn
Mal...Mir fällt der ‘Knastfunk’ ein. Kennt hier jeder. Einmal klopfen
gleich A; zweimal B; undsoweiter, bis ganze Wörter und Sätze entste-
hen. Das dauert, aber Zeit ist ja reichlich. Gedanken ordnen. Wie war
das nochmal?...Zweimal klopfen: B. Neunmal klopfen: I. Jetzt klopft
es achtzehn Mal. Also: R. Sechs Mal: G. Neunmal: I. Zwanzig Mal: T.
BIRGIT.
Birgit?...Kann nicht sein. Veräppeln kann ich mich selber.
Klopfe ungläubig ‘Frau’? zurück.
Dreimal Klopfen von der anderen Seite. Soll heißen: richtig.
Keine Veräppelung - nebenan sitzt tatsächlich eine Birgit - und ich
kriege den Mund nicht mehr zu.
Nach Ablauf einiger, wilder Freudensprünge geht die Klopferei mun-
ter weiter. Den ganzen Tag lang trommeln wir uns die Finger wund -
und abends weiß ich, daß in der Nachbarzelle Birgit W. sitzt; daß sie
24 Jahre alt und nur auf ‘Durchreise’ im Strelitzer Bau ist. Bald fährt
die grüne Minna mit ihr weiter; Richtung Berlin; Frauenknast.
Ich erfahre, daß Birgit auch wegen Zwodreizehn sitzt. Sie wollte über
Ungarn abhaun. Zwei Jahre haben die Schweine ihr aufgebrummt.
Kurz vorm Abendbrot weiß ich sogar, wie meine Zellennachbarin aus-
sieht. Kurzgeschorenes, blondes Haar - früher fast arschlang - fügt sie,
wütend klopfend, hinzu. Grünblaue Augen. Kleine Nase. Ohren, groß.
Flache Brüste. Dünn. Kein bischen Speck mehr - da ist es wieder - das
lautere, wütende Klopfen.

Ehe wir müde zu Boden sinken, funken wir ‘süsse Nacht’, und ‘schlaf
schön’. Liege noch mindestens - wenn nicht noch länger wach - rede
mit mir selbst. > Da siehste dauernd nur den schnarchigen Wärter,
oder auch schon mal zwei schnarchige Wärter, die dröge aus der
Wäsche glotzen. Nicht zu vergessen, die eigene Räubervisage im
halbblinden Spiegel...Und jetzt haust du Wand an Wand mit Birgit.
Du siehst sie nicht wirklich - wie denn auch! Aber ihr Bild ist da.
Sie ist da - nur das ist wichtig. Sie ist allein und du bist allein - bis
heute. Jetzt ist alles gut; leichter irgendwie. Ob sie schon schläft?
Träumt sie? Na klar träumt sie? Was sie wohl träumt?
Vielleicht dasselbe, wie ich...
Nicht vielleicht. Bestimmt! Wir träumen uns raus; weit weit weg;
an einen sicheren Ort; in unsere Stadt. Die Stadt ist riesig und über-
all - nur nicht hier. Keine Tristesse; kein Hunger mehr und kein
Alleinsein. Die Stadt wird auf uns warten. Mußt dran glauben...nur
fest dran glauben!
Hab mal an ‘den da oben’ geglaubt. Aber beten half nicht. Hab es
immer wieder versucht. Hier gibts keinen Gott. Nur Phantasien - die
holen dich aus dem Gröbsten raus.
Schlaf gut, Birgit. Und träum’ was Schönes. In Strelitz zählt jeder
Traum!


Viel zu früh - nämlich schon am nächsten Morgen - holen sie Birgit ab.
Die Angst, die kommt, ist gnadenlos.
Ich rufe ihren Namen. Schreie!
Klopfen an der Zellentür. Dann ein Ratschen. Der Spion.
Ihre Stimme!
> Ich kann dich nicht sehn, Ralph. Ist so dunkel dadrin...!<
Die Angst packt zu.
> Nein, du kannst mich nicht sehn, aber hören...Bleib hier, Birgit!<
Trommeln an der Tür.
> Ich dreh durch! Ich dreh hier durch! Bleib hier, Birgit! Bleib, bitte!<
Das Trommeln wird lauter.
> Allein werd’ ich hier verrückt! Biiirrgittt!!!<
Kratzen an der Tür. Rutsche ab. Heule.
Die Stimme des Wärters. > Los, weg da! <
Birgit schreit sich alle Wut aus dem Hals.
> Fass mich nur einmal an, du mickriger Schweinehüter! Ver-
such’s nur ein einziges Mal! <
Offenbar kuscht der Alte.
> Herrje. Von mir aus. Sag dem Idioten tschüß, aber schnell.<
Sie klopft wieder.
> Ralph, hee; halt durch...hörst du. Du musst durchhalten! Wir müs-
 sen beide durchhalten. Und wir schaffen das auch! Bestimmt schaffen
wir das!....Hörst du, Ralph?....Ralph, sag doch was! <
Sie tritt zu.
> Die verdammte Scheisstür.....! Scheiss.....! <
Ihr Kratzen auf der anderen Seite. Ich höre sie weinen; hilflose Wort-
fetzen stammeln.
> Ralph...sprich doch....sag irgend....<
Eh’ mir die Stimme ganz verreckt; schreie ich: > Birgit! Nie werd’
ich dich vergessen. Niemals, Bir....! <
Erstickt, die Worte.
Dafür die Stimme des Wärters.
> Was’n Theater! Nu’ komm schon...Hab keine Lust, mir euretwegen
‘n Anschiss zu holen.<

Schritte, die sich entfernen.
Röcheln. Dann eine heisere Stimme. Die eigene. > Birgit...? <
Keine Antwort. Stille. Schritte; Hoffnung - verklungen.
Der letzte Schrei ins Nichts. Und im Hals; auf der Lauer; das erste,
idiotische Lachen.




 

 

September ‘83   

 

Ich hatte märchenhaftes Glück. Am Tag der offiziellen Haftentlassung
ließen sie mich ziehen. Zwei Jahre und drei Monate - keinen Tag frü-
her. Abgeschoben.

 

 

Sammellager Karl - Marx - Stadt

Im Gefängnishof steht ein Reisebus.
Die Gefangenen werden aus den Zellen geholt. Mütter, Väter, Söhne,
Töchter. Zerrissene Familien, die sich nach Monaten; Jahren der Tren-
nung wiedersehen. Sie umarmen sich lange.
Ein Bus voller Tränen.

Das Tor öffnet sich.
Richtung Grenze. Am Kontrollpunkt winken uns die Grenzer
durch. Einfach so.
Neben mir: eine Frau; Anfang, Mitte zwanzig - schwer, zu sagen -
blass; dürr; die Hände zittern. Das legt sich erst, als der Bus Westseite
erreicht hat. Goldenes Land.
> Wohin bringen die uns? < fragt sie.
Die Stimme... wie die von Birgit!
Frage sie nach ihrem Namen.
Schade. Sie ist es nicht. Ich denke oft an Birgit. Ob sie irgendwann
auch in diesem Bus sitzt...? Oder schon saß?
Irgendwann - nach langer, durchwachter Nacht, werde ich gehen,
um sie zu suchen.



Gießen. Aufnahmelager.

Hundert Mark Begrüßungsgeld für jede(n).
Medizinische Untersuchung. In der Warteschlange bricht eine junge
Frau entkräftet zusammen.
Sie wird wieder gesund. Wir alle werden gesund - Väter, Söhne, Müt-
ter, Töchter. Früher oder später sind wir alle gesund. Von außen be-
trachtet.






Sieben Jahre später.
Winter 1990/91

Die Mauer ist Geschichte.
Schließe mich neuerdings öfter im Zimmer ein und brüte ohne nen-
nenswerten Grund vor mich hin, oder hetze von Ecke zu Ecke...
Haftmacke? ...Keine Ahnung. Bin ich Seelenklempner?
Wird schon werden. Alles braucht seine Zeit.

Bin wieder in Wismar. Am Hafen. Es riecht nach Rost; nach Leben.
Der letzte Tag. Morgen fahre ich nach Hamburg zurück. Oma fin-
det das nicht so toll. Sie würde am liebsten mitkommen. Haut nicht
hin. Für zwei ist meine Bude viel zu klein. Nur 15 Quadratmeter - da
paßt kein Bett mehr rein. Kein Vergleich zu Omas großem, mor-
schen Haus.
Mit Arbeit siehts nicht rosig aus. Nur irgendwelche Gelegenheits-
jobs. Bin froh, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben. Oma
schießt monatlich zweihundert Mäuse zu. Habe vor, sie jetzt öfter
zu besuchen; helfe, so gut ich kann. Gesundheitlich gehts ihr nicht
so gut. Sie wackelt wie Götterspeise und schwerhörig ist sie inzwi-
schen auch. Neulich, als sie mit Grippe und gefährlichem Fieber im
Bett lag, mußte ich eimerweise Schnee ranschaffen. > Hol Schnee,
Jung’! < phantasierte sie. > Mir is’ so elend heiss! <
Gottseidank ist sie wieder über’n Berg. Doch Schiß hab ich schon,
sie allein in dem großen Haus zu lassen. Pudhys kann sie auch nicht
mehr hören. Würde sie gern, aber da meckern die neuen Nachbarn,
wenn es volle Pulle aus der Kofferheule dröhnt. Deshalb wandern
die Kassetten in meine Reisetasche. Oma will das so. Auch kriegt
sie jetzt öfter mal ihren Moralischen. > Is’ doch kein Leben mehr! <
jammert sie in immer kürzeren Abständen.
> Jesses, du bist bald Neunzig, Oma! < rede ich ihr ins Gewissen.
> Da kommt’s schon mal vor, daß man wackelich is’ und schwerhö-
rich. Is’ völlich normal! <
Das hört sie wiederum sehr gut und garnicht gern. > Normal, nor-
mal...Ich wackel’ nich’! < schimpft sie, während ihr im gleichen
Moment die Teetasse aus der Hand fällt. > Und wat die Ohrn hörn
wolln, hörn die allemal! <
Glaube ich ihr auf’s Wort. Aber besser wird’s davon nicht.
Grübele in letzter Zeit ohnehin zuviel. Hat auch mit Oma zu tun.
Seit die Mauer offen ist, hat sie schon öfter angeboten, wieder in
der Poeler Straße zu wohnen - bislang ohne klare Antwort. Da gibts
nämlich ein Problem. Bin zu stolz. Ich hau doch nicht erst ab, um
dann wiederzukommen. Also, das wär ja wohl total bekloppt, oder?
Bin ich Hellseher, daß ich weiß, wie alles kommt?! Eigentlich schön,
daß die Scheißmauer endlich auf ist. Nur...meine ganzen Mühen wa-
ren für die Katz. Alles umsonst. Hätte nur ein paar Jährchen warten
müssen...Hätte, hätte...Jetzt ist die neue Zeit da. Kannste nicht än-
dern - will ich auch garnicht.
Sollte über meinen Schatten springen und doch mal über Omas An-
gebot nachdenken.
Aber nur vielleicht!


Nachmittags, im Hafenviertel.
Pauls Kneipe ist dicht. Der alte Mann ist im Ruhestand. Die Kon-
kurrenz, die seit der Wende scharenweise ins Viertel einfällt, hat
ihm den Laden für reichlich große Westscheine abgeluchst.
Drüben, am Silohaus, wettert ein selbsternannter Prophet gegen die
brandneue Nuttenbar. Aber sonst gehts ihm gut.
Arschkalt, hier draußen. Schlage den Kragen hoch; suche ein wind-
geschütztes Plätzchen - mit Blick zur See.
Rot gefrorene Nase. Eisige Hände. Trotzdem: Kofferheule an. Puh-
dys. Volle Lautstärke. Ist ja keiner da. Der Prediger ist verschwun-
den. Die Zeit auch.
Nur Paps und ich.
Wir schneien ein.
Langsam wird es warm unter der dicken Schneedecke. Niemand
sieht das Versteck. Keiner kennt unser Geheimnis.
Ein Schiff macht los. Worte werden Bilder...Für uns. Nur für uns
und sonst niemanden.

Sitzen zwei schon im Schatten
sitzen da, auf einer Bank.

> Wohin fahrn die, Papa? <
> Irgendwohin. Was weiß ich. <

Der eine fühlt sich müde.
Der andre fühlt sich krank.

> Bestimmt nach Hamburg. Und von da aus wieder hierher! <
> Hierher? Nee. Warum sollten die nochmal retour fahrn? <

Sind nicht zu trennen, bleiben vereint,
ob Nacht heranzieht; Morgen erscheint.

> Na, wegen uns! <
> Wegen uns? <
> Schiffbauer in Hamburg. Das wärs...! <

Sie finden zueinander,
auf Lebenszeit.

> Träum man schön weiter... <


( Kursivschrift: aus Puhdys ‘Lebenszeit’)

 

 

 

 

 

 

Siebzehn Jahre danach.

Herbst.

 

Bin in der Pfalz gelandet. Tiefste Provinz.

Stapfe durch den Wald bei Kröppen; Richtung Walschbronn. Frü-

her war hier grüne Grenze. Frankreich/Deutschland. Tut gut, die

Grenze zu überschreiten, so oft man will. Kein Zaun; kein Halten.

Die Füße tragen dich westwärts; immer weiter; über Lichtungen

und schwarze Wege.

Die Luft ist klamm; Tage und Nächte kühl. Laufe lieber durch

dunklen Wald. Nachts traut sich hier keiner raus. Nur ich und das

sanfte Geknarre der Holzkameraden.

Karin schläft sicher schon; drüben, in Kröppen, im warmen Bett.

Wenn sie nicht wär, würde ich ein Baum werden und hierbleiben.

Karin holt mich immer zurück. Sie ist der Anker. Mein Rettungs-

anker. Hab Birgit gesucht....und Karin gefunden.

 

Irgendwo schwaches Licht.

Kein Haus. Nur der Mond im schwarzen Geäst. Ich heule; flenne

los; einfach so. Passiert mir oft; viel zu oft. Wo ist das Großmaul

von einst?

Großmaul?

Gibts nicht mehr. Ist verstorben. Stattdessen ein windelweiches,

grübelndes Etwas. Zum Glück ist keiner da, der drüber lachen

könnte. Die alten Holzkameraden ringsum haben soviel gesehn

und gehört. Die bringt mein Geflenne nicht aus der Ruhe.

Wenn hier einer keine Ruhe findet - dann ich. Schleiche wie ein

Tier durch den Wald; ziehe Kreise; immer Kreise. Der Wald ist

nicht groß genug. Für meine Unruhe ist kein Wald groß genug.

Der Mond grinst sich eins. Er grinst; und ich lach’ und flenne

gleichzeitig - wie auf Drogen, oder im Suff.

Keine Drogen. Kein Suff. Das wüßte ich. Dennoch: Einzelhaft

bis ans Lebensende. Hetze durch die Zelle in meinem Kopf und

finde keine Tür.

Keine Rauschmittel, sondern Gift.

Spätes Gift.

 

 

 

(c) Ralph Bruse

 

 

 

                                                                         Ende                                                                                  



                       

Meinem Vater gewidmet

 
 

                                

 

 

´Bis an die Grenze´ erreichte beim internationalen Fun

for Writing - Schreib - Wettbewerb Platz 2 in der Kategorie:

Roman/Erzählung.



     Christine

       Ralph

       Heike

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