Der Schatten
Als er wiederkam, verschlang Nebel die Stadt.
November. Schwarze Wolken zogen schemenhaft um nasse
Ecken. Im Hafen schwammen violette Ölspiegel.
Er ging hin; warf einen Stein ins Wasser - voller Zorn, als
könne er Schiffe durch die Kraft wilder Gedanken versenken.
Hottes Katze schlich noch umher. Als sie sich zaghaft näher-
te, griff er zum nächstbesten Stein. Sie riss aus; er warf in die
entgegengesetzte Richtung, rief irgendwas; die Katze stoppte
unterhalb der Kaimauer. Komm schon!, rief die Stimme im
Halbdunkel. Eine vertraute Stimme. Langsam; sehr langsam
kamen sie wieder aufeinander zu. Er nahm Platz auf einem
Polder; streckte die rechte Hand aus. Die Augen der Katze
weiteten sich.
> Komm schon, Schwarze... <
Sie kam, jaulte ihm die Ohren voll; sprang schließlich auf
seine Oberschenkel. Behutsam zog er den feuchtglänzenden
Rumtreiber an seine Brust. Er sprach länger, als es jedes noch
so vertrauensselige Tier dulden würde - erzählte von der Zeit
davor und davon, was nun sein wird. Zwischendurch lauschte
er der fernen Brandung und dem nahenden Tod - er konnte
ihn hören, den unerbittlichen Herrn; im tiefsten Innern - und
er wird ihn fragen, warum er sich nicht den ollen Klopp, im
Haus nebenan, holt? Der ist über hundert und hat die ganze
Welt gesehn. Aber er, Hotte, ist erst dreißig. Ria liebt ihn und
er liebt Ria - und Stine. Die Kleine ist erst sieben und so
dünn, obwohl sie mitunter futtert, wie ein Scheundrescher.
Vier war sie, als er sie erstmals mit rausnahm, zum Fischen.
Abends, nach gutem Fang - daran erinnert er sich haarge-
nau - stand sie stolz wie Neptuns Braut neben ihm am Steu-
er und gelobte feierlich: > Später werd’ ich ‘n Schiff, Papa.
’n Riesenschiff. Mindestens fünfhundert Meter groß! <
Er lachte ausgelassen, zog sie hoch; setzte sie vor sich,
aufs Steuerrad. Während ihre dünnen Beine fröhlich auf - und
abschaukelten, hielt er Heimatkurs, trank aus der Thermos-
kanne den Rest schwarzen Tees, lachte wieder und hielt ‘Nep-
tuns träumende Braut’ fest, so gut es bei ihrem Gewippe eben
ging.
Später, vor dem Schlafen, sagte er: > Wenn du ‘n Schiff wirst,
bin ich’n Albatros. Denn flieg ich dir immer hinterher, weil
ich ja wissen will, ob das Schiff nicht leck ist, oder sonstwie ka-
putt. Wär nämlich schade um so’n hübsches Schiff wie dich,
weißte...Und denn gibts ja noch Stürme oder Piraten, die das
Schiff in Gefahr bringen. <
Sie sah ihn etwas verwundert an.
> Aber unse’ paar Fische klaun die Piraten doch nicht, Papa. <
> Nee, auf Fische sind die nicht so wild. Die nehm’ gründlich-
keitshalber gleich das ganze Schiff mit.<
> Das ganze, schöne Riesenschiff? <
> Kannste drauf wetten. Erstrecht, wenn viele reiche Leute mit-
fahrn. Auf Fünfhundertmeter-Schiffen fahrn ja meist reiche
Leute - manchmal auch Arme, aber die haben die Reise beim
Kreuzworträtseln gewonnen.<
> So wie Mutti neulich die Kartoffelschälmaschine, ne? <
> Jo. <
> Würden die Piraten denn auch Muttis Kartoffelschälmaschine
klaun? <
> Keine Ahnung. Vielleicht. Aber sie hat ja keine Kreuzfahrt
gewonnen, sondern die Schälmaschine. <
> Stimmt! Da hat Mutti wirklich Glück, daß sie nur die Kartof-
felmaschine gewonnen hat, ne? <
> Jo, schönes Frollein. Und jetzt schlaf man schön. <
Er zog die Decke bis an ihr Kinn; küsste sie.
> Papa? <
> Jo? <
> Willst du nich’ lieber ‘n Reiseschiff werden und ich der gro-
ße Vogel, der auf dich aufpasst? <
> Wegen der Piraten, stimmts? Damit du schneller Land ge-
winnst, wenn’s brenzlich wird, ne? <
Ihr Kichern ist die beste Antwort.
> Na gut, Angsthoppel. Ich verkauf denn unser´n ollen Kutter
und werd’n Riesenschiff. Alles klar? <
> Ja, is’ klar. <
Es ging noch munter so weiter. Soviel bunte Fantasie passt
in keinen Kindskopf, dachte Hotte für sich. Doch auch er be-
kam nicht genug von dem Was-wäre-wenn?-Spiel. Hinter ihm
lag ein anstrengender Arbeitstag. Stine plapperte und plap-
perte. Wenn schon - er saß abwechselnd auf Schulter - und
Bauchhöhe ihres Bettes, und träumte mit.
Weit nach Mitternacht streckte er sich neben sie, gähnte aus-
gelassen; auch Stine gähnte, und das Letzte, was er vernahm,
war ihr gleichmäßiges, tiefes Atmen.
Wochen später - fast zu gleicher Nachtzeit - schlich er sich
aus dem Haus - ließ Tochter und Frau zurück. Elend fühlte er
sich; krank und schwach. Tagelang irrte er umher. Nirgendwo
kannte man ihn - so wollte er es. Sterben in der Einöde, da
draußen. Niemandem sollte sein Ende zur Last werden.
Ruhelos lief er mal hierhin, mal dahin. Einen bestimmten Weg
gab es nicht. Ortsschilder; jede noch so deutliche Hinweista-
fel, übersah er. Seine Achtsamkeit richtete er nur auf Men-
schen. Sobald er jemanden von weitem sah, floh er querfeld-
ein, für den Fall, es könne ein bekanntes Gesicht darunter
sein. Bleiernes Laufen - weglaufen. Er trank Regen aus Pfüt-
zen, aß liegengebliebenes Gemüse von Äckern. Sein Fischkut-
ter ankert verwaist im Hafen - daran dachte er - auch an Stine
und Ria dachte er - daß sie ihn vergessen müssen, so wie er
es auslöschen muß - das hart erarbeitete, dennoch schöne
Leben von einst.
Immer wieder sank er entkräftet im schmatzenden Schlick
grauer Deiche ein; rappelte sich hoch, schleppte sich weiter;
sah schwarze Pferde zur Abenddämmerung und weiße Ge-
stalten am Morgen - die nicht wirklich da waren; die riefen;
ihn zu sich riefen. Und dann, an jenem Novembertag; den
Vierzehnten oder Dreizehnten, fiel er dem Tod in die Arme;
vielleicht auch irgendeinem Fremden. Und er fragte ihn mit
ungestümer Bitterkeit in der brechenden Stimme, warum er;
warum ausgerechnet er?! Dreißig sei er; gerade mal dreißig!,
und der Klopp ist schon über hundert und hat die ganze Welt
gesehn. Die wird Hotte nie sehn. Will er auch garnicht. Ihm
reicht das einfache Fischerdasein. Nur rausfahren, um Frau
und Kind über die Runden zu kriegen. Mehr nicht. Keine Kla-
gen. Es könnte schlimmer sein. Nein, es könnte nicht schöner
sein! Nur leben will er; weiterleben, ohne die verdammten
Schmerzschübe des Tumors im Kopf...Er hat noch so viel vor;
will Stine beizeiten den Kutter schenken; in einigen Jahren.
Dann ist sie die erste Fischerin im Ort. Ein neues Boot wird er
bauen; ‘ne Nummer kleiner als das alte, damit Ria und er raus-
fahren können, wenn das Meer bei sanfter Laune ist.
Und jetzt? Was ist jetzt?!, schrie er mit letzter Kraft. Jetzt wer-
de ich sterben! Gleich bin ich tot..! Lass mich los..! Lass end-
lich los, Leichensammler...!!!
Der Fremde war groß und bärenstark. Er schulterte den armen
Irren, wie er Hotte nannte, und trug ihn scheinbar mühelos in
sein Haus, hinterm Deich.
Zwei lange Tage lag der Kranke mit hohem Fieber im Bett.
Währenddem kümmerten sich abwechselnd Frau und Mann um
ihn. Es wird schlimmer, klagte die Frau immer wieder. Doch am
Morgen des dritten Tages, sagte sie: es macht sich.
Die alten Leute spannten zwei Gäule an und brachten ihn als-
bald zurück, ins Westerland. Sie hatten sich umgehört und
wußten längst, wo er herkam.
Seinem Wunsch entsprechend, setzten sie ihn am Hafen, im
Schutz der Dunkelheit ab, und zockelten heimwärts.
2.
Dort sitzt er nun - die Schwarze bei sich, erzählt dem schla-
fenden Tier von früher - und was mal sein wird. Vom Tod
spricht er und vom Leben - daß ihm etwas besser ist, daß er
kämpfen will, gegen alle Voraussagen neunmalkluger Leute in
weissen Kitteln - kämpfen gegen das tückische Hämmern im
Kopf und wenn es sein muß, auch gegen die trostlose Nacht,
hier draußen. Damit es Tag wird, und hell - ja, hell!!
Er geht, die Katze behutsam im Arm.
Jemand folgt ihm wie sein Schatten.
Drei Uhr, früh.
Alle Gassen, jeder Winkel: vertraut. Er wankt auf das einzige,
erleuchtete Haus zu. Sein Haus. In der Küche sitzt jemand am
Tisch. Eine weinende Frau. Ria...Er klopft ans Fenster; stammelt
ehrliche Worte. Das Ende der Angst. Sie rennt zur Tür; reisst
sie auf..!
Der Schatten, draußen, geht. Woanders hin.
Anderntags, als der Nebel für kurze Zeit aufs Meer zurück-
weicht, tragen Männer den alten Klopp in einer Kiste aus dem
Haus. Letzte Nacht ist er gestorben. So gegen drei.
(c) Ralph Bruse