Erinnerungen

Inhalt:

 

Rotgold

Vielleicht, vielleicht auch nicht

Vielleicht, vielleicht auch nicht (Teil 2)

In einer Winternacht

Schneespuren

Das Leuchten des Bösen

Land im Nebel

Die Verabredung

Der Ring

Es fährt ein Schiff

Tanja

Dort....oben

Glück, wenn man so will

Frühling am alten Haus

Nachtgespräche

Blütenstaub

Rotgold

 

 

Pfeift der Wind wild durch das Haar

und lässt uns fröstelnd husten,

dann wird uns langsam schon gewahr:

der Herbst will uns was pusten.

 

Schon kommt auch Regen angeflogen;

verfinstert beinah alle Morgen.

Wir haben uns dick angezogen

und wollen uns um garnichts sorgen.

 

Im Geisterlicht, nach jenem Regen,

laufen wir froh im Matsch dahin.

Die Sonne bricht hindurch - ein Segen!

Gleißendweiss tänzelt der Nebel

und wir staunen mittendrin.

 

In Rotgold rauscht bald Land und Luft.

Aus leisem Tropfen krummer Bäume

steigt auf, der erdig herbe Duft,

öffnet die Tür in neue Räume.

   

Durchströmt vom warmen Wohlbehagen

betreten wir ersehnte Stille;

entfernen sacht die Nebelschwaden

und steigen aus der kalten Hülle.

   

Das Ofenfeuer kracht und knistert -

ein Zauber, der uns zart umfängt

und leise rotgoldflammend flüstert -

dabei die Zwänge von uns drängt.

   

Draußen pfeift der Wind noch immer,

doch hier im warmen Kerzenschimmer

umhüllt uns still Geborgenheit.

 

 

(c) Ralph Bruse

Vielleicht, vielleicht auch nicht


Er saß da: lachend, die Arme zum Himmel gestreckt. Nahm garnicht
Notiz von ihr - zunächst nicht.
Das ist mein Weg, dachte sie. Zwar geh ich ihn immer nur halb und
nie zu Ende: aber er gehört mir!
Der lange, gerade Feldweg flimmerte in der Morgensonne. Rechts,
die Apfelbäume, jetzt, im Mai, voller rotweisser Blüten. Geradeaus
und überall darüber: blassblauer Himmel. Linkerhand die weit hin-
gestreckte Blumenwiese, durchzogen vom schmalen, gurgelnden
Bach. Da saß er. Der Mann. Lachend. Die Arme himmelwärts.
Nun bemerkte er sie. Ließ die Arme sinken, erschrak auch zunächst
etwas, aber sein Lachen blieb.
,, Schön hier, nicht wahr? "
,, Ja, schön, " antwortet sie leise, voller Zurückhaltung.
,, Setz dich doch...Mir ist, als würden wir uns schon ewig kennen, "                             
sagt er, das hohe Gras um sich streichelnd.
Mir nicht, denkt sie. Und: komplett meschugge, der Kerl. Nie und
nimmer setz ich mich dahin! Und wenn doch, dann nur, weil du in
der zweiten Weghälfte bist - da, wo ich noch nie war, Freundchen. Nur
deshalb! Und weil mich spleenige Typen, wie du einer bist, grundsätz-
lich irgendwie neugierig machen. Sonst sitzt hier nämlich nie einer in
der Wiese, fern von Haus und Hof.

Sie zögert lange.
Zwei, drei Minuten vergehen. Etwa. Oder nur Sekunden? Zeit -
scheint es - hat plötzlich alle Bedeutung verloren.

„Wie haben Sie meinen Weg gefunden? ''
„ Er hat mich gefunden. Übrigens – ich heiße Tim.“
Abgefahren ist der Typ schon, aber garnicht mal unsympathisch, über-
legt sie. Gefährlich wird er schon nicht sein. Hat ja nichts Verdächtiges
bei sich: `ne Jacke, den Rucksack, obenauf ein alter Fotoapparat, Son-
nenbrille und die Baseball-Cap, daneben, im Gras liegend. Seine Jeans
sind zerrissen. Stammt wahrscheinlich vom Kleiderspende-Laden. Je-
denfalls nicht aus der Boutique.
Neben ihm liegt etwas. Sieht aus wie poliertes Holz, doch es liegt halb
versteckt unter der Decke, auf der er sitzt. Er sieht sie erwartungsvoll

an, doch sie hält sich vorsichtig zurück.
Im Innersten fühlt sie sich wohl neben ihm, ein unbekanntes Gefühl von
Vertrautheit schleicht sich ein. Wie alt mag er sein? Jugendlicher Typ mit
Gesichtsfurchen. Wenn er lacht, bleiben die Augen matt. Nur die Gräben
um seinen Mund verziehen sich.
„ Also: ich bin Danny. Wo hast du denn deine Unterkunft? Oder zeltest du
hier? “
Er lacht laut.
„ Ich?... Wohne da drüben am Bachufer. Kann mich prima waschen und
im Spätsommer pflück ich mir mein Frühstück vom Baum. Was will ich
mehr. Heißen Kaffee kann ich mir auch irgendwo holen, wenn ich will.“
Läuft er vor jemandem weg?, überlegt sie. Hat er was ausgefressen und
wird womöglich gesucht? Eigentlich sieht er nett aus. Wenn man ihm die
Haare mal in Form bringt und er sich die Stoppeln rasiert,  könnte man

sich glatt in ihn verlieben. Er hat sowas Geheimnisvolles an sich.
Sie gibt sich einen Ruck.
„ Ich muss wieder los. Vielleicht seh´n wir uns ja die Tage. Falls du was
brauchst – ich wohn´ da drüben, in dem kleinen Häuschen. Das mit der

grünen Tür “.

Auf dem Rückweg wünscht sie sich eigentlich schon, er möge abends klop-
fen und sie um eine Tasse Tee bitten.

Nichts. Er kommt nicht. Der Mond glotzt hell und voll in ihr Schlafzimmer.
Langsam geht sie zum geöffneten Fenster und zündet sich eine Zigarette an.
Vor mehreren Jahren hat sie das Rauchen aufgegeben, aber heute holt sie 
sich eine Zigarette aus der Packung, die ihre Freundin kürzlich hier verges-
sen hat.


Ein paar Tage später:
Sie hat Kuchen gebacken, Kaffee in der Thermoskanne – kommt sich vor wie
Rotkäppchen, nur ohne Rotwein und viel älter – und läuft schnellen Schrittes
den Weg entlang zur Wiese, zum Bach.
Niemand zu sehen. Sie blickt über die Gräser hinweg und hofft, ihn vielleicht
schlafend irgendwo zu entdecken - aber nichts.
Leere. Auch in ihr.
Enttäuscht tritt sie den Heimweg an. Idiot! Mich so in Unruhe zu bringen!
Was geht mich der undurchschaubare Kerl auch an! Und überhaupt: ich bin
gern allein und brauch meine Freiheiten - basta. Und trotzdem back ich statt-
dessen Kuchen und renne einem Fremden nach, über den ich rein garnichts
weiß.

Als sie sich ihrem Haus nähert, ertönen von Weitem Gitarrenklänge „ Sounds
of Silence “ . Er sitzt auf der alten Bank und seine Finger wandern geschickt
die Saiten entlang. Ein Lächeln, das sie heute sogar in den Augen sehen kann,
strahlt ihr entgegen.

Der frühlingswarme Abend bricht langsam an und sie sitzen still draußen, der
beginnenden Dämmerung zusehend.
Er atmet tief ein und aus.
„ Ich will mein Leben neu spüren. Dazu hab ich mir diesen Flecken Erde aus-
gesucht. Blumenwiesen, wie die hier draußen, konnte ich nie wirklich wahr-
nehmen und schon garnicht ihren Duft riechen. Aber jetzt fühle und atme ich
alles...tief und viel intensiver! “
Ihr läuft ein leichter Schauer über den Rücken. Jetzt bloß nicht weichspülen
lassen! Sie nimmt das Kaffeegeschirr, das noch immer da steht und stolpert
in die Küche. Was soll sie nur tun...?
Ja, sie wird ihn wegschicken. Vielleicht wird er auch von selbst gehn, oder:
er bleibt....

Er entdeckt den alten Plattenspieler auf der Holztruhe und kramt in den LPs
nach Oldies. Platters, französische Chansons und hier: Otis Redding: “Sittin´
On The Dock oft the Bay“ und Elvis: „Falling in Love“.
Er sucht weiter, legt schließlich einen Song von Leonard Cohen auf.
Sie kommt herein - lächelt.
Draußen wird es Nacht.

2.
Ehe er fort war, schlenderten sie am anderen Morgen nochmal den Feldweg
entlang. Kamen an den leise dahin plätschernden Bach. Zur weithin gestreck-
ten Wiese. Setzten sich. Sahen rauf, zum Himmel, als suchten sie dort nach
Antworten, die es nicht gab. Sie wiegte ihren Kopf an seiner Schulter. In sei-
nen Armen. Ameisen bevölkerten ihre Schuhe, alle Kleider. Auch Käfer. Sie
bemerkten es nicht.
Plötzlich zitterte er heftig. Umschloss sie fester und verschluckte einige Sil-
ben.
,, ...nicht fair, das Leben..."
Schließlich sprach er mit etwas festerer Stimme.
,, Da ist noch etwas, das ich dir sagen muß... "
Auch sie bebte; hob die eine Hand, verschloss seinen Mund.
,, Ich weiß. Du hast es mir im Schlaf erzählt...."

Minuten vergingen. Oder waren es Stunden?
Zeit ist aufgehoben. Ist verloren in rauschender Stille und Wind. Was zählt,
ist im Jetzt und Hier.
                                               
                                                                  *

Irgendwann, in der folgenden Nacht, lief sie weit hinaus. Ging den Weg, den
sie sonst immer nur halb ging, bis zum Ende - mit ihm. Sah zu den Sternen
auf, vernahm ganz nah das Rascheln und Raunen blühender Apfelbäume,
fand ihren Lieblingsplatz in der feuchten Blumenwiese, lächelte tapfer,
streckte einen Arm seitwärts aus, spürte seine Hand ganz deutlich.
Er war fort....Und hier.

 

 

Erzählung und Foto: (c) Ralph Bruse

Vielleicht, vielleicht auch nicht (Teil 2)

 

Wohin der Wind weht

 

Eiseskälte, hier draußen.

Windtränen rinnen ihr an Wangen und Mund herab.

Schneegriesel blinkt an ihrer Nasenspitze - hüllt sie

nach nur wenigen Minuten ganz ein.

Sie hätte drinnen bleiben sollen. Im strohgedeckten

Haus ihrer Eltern. Am warmen Kachelofen. Doch

plötzliche Unruhe treibt sie hinaus. Was die Unruhe

auslöst, weiss sie selbst nicht. Es ist ein Drang; fast

schon zwanghaft, der sie vorwärts treibt; mitten hi-

nein in Frost und harschen Abendwind.

Danny sieht sich um und zurück. Sie hat das Küchen-

licht brennen lassen. Absichtlich, weil das hingeduck-

te Häuschen in den Dünen zu einsam und weitab vom

Schuss steht. Nicht, daß noch irgendein zufällig vor-

beikommender Strolch auf dumme Ideen kommt und

ungebeten ins Haus stürmt. Das ist schließlich ihr 

Haus. Ohne jeden Luxus. Der Strom fällt gelegentlich 

auch aus, wenn stramme Winde zu wild am einzigen 

Verteiler-Mast, vorm Haus, rütteln.

Ist nun mal so auf einer Insel, im Irgendwo, wenn man

im Winter ohne Gäste mitten in der Nordsee ausharrt.

In einem Haus, das dann zwar leicht geschützt hinter

hohen Dünen einschneit; dessen Balken dennoch unter 

der Wucht schweren Schnees ächzen. Sie ist allein, 

dort draußen. Niemand da, der hilft.

Lohnt auch nicht, gegen Schneemassen und klirrende 

Fröste anzukämpfen. Nur den einen, schmalen Pfad 

hin, zum dampfenden, silbern schimmernden Meeres-

ufer, hält sie einigermaßen mit Händen und Schippe 

frei.

 

Sie hat die Handschuhe im Haus liegenlassen. Auch den

dicken Wollschal. Danny zögert - steht kurz still - schaut

zurück, zum Haus. Sie haucht etwas Wärme zwischen 

die schon klammen Hände, zieht die Schultern hoch; lässt

sie sinken und flucht vor sich hin.

Das hilft. Sie stapft weiter den Pfad lang, hin, zum offe-

nen Strand, wo der Wind noch wütender pfeift, aber auch

weniger Schneewehen aufgetürmt liegen.

Die Dunkelheit wird riesig; schließt sie schließlich ganz 

ein. Nur vorn, die rauschenden Wellen, schimmern noch 

silbrig und unwirklich. Wenige Meter hinter ihr ragen die

Schneemassen über einen Meter auf. An mancher Stelle 

sogar eineinhalb Meter. Aber hier, am Ufer: nur flache 

Haufen funkelnder Verwehungen. 

Der Wind schleudert ihr unnachgiebig Schneegriesel ent-

gegen - gerade so, als wolle er sie aufhalten - ihr Vorwärts-

kommen stoppen. Aber Danny wischt sich die wie Nadeln

stechenden, weissen Kristalle von Augen und Gesicht. Geht

unbeirrt und bewusst trotzig weiter den schmalen Weg. Bis

sie das Ufer erreicht: stumm lachend und geradeaus spä-

hend - dahin, wo der Horizont noch etwas heller scheint und

das Rauschen noch gewaltiger.

Wie aus dem Nichts holt sie plötzlich die völlig irrationale 

Eingebung, daß er in dieser Winternacht hier, ans Ufer, kom-

men wird. Er - den sie einst drüben, auf dem Festland....Es 

war Sommer...Herrlich warm. Voller Leichtigkeit. Und sie wa-

ren für wenige Tage die wohl glücklichsten Menschen auf Er-

den...

Er und sie...Beide verloren sie sich damals aus den Augen, aus 

den Herzen aber nie. Sie lebten weiter: irgendwie füreinander, 

für das rastlose Bangen und Hoffen, daß ihre Sehnsucht sie

wieder zueinander führen wird - irgendwann und irgendwo.

Die Welt ist groß, doch ihre Herzen trommelten darin weiter 

in unsichtbarem Gleichklang - ganz gleich, wo - schlugen mal 

leiser und dann wieder heftiger, bis hoch, an ihre Kehlen, wo 

das Lachen, das in all den Jahren nach außen drängte dann 

doch, sich fügend, stumm blieb.

30 Jahre lang.....

 

Und dennoch...Sie steht nun hier, am Ufer und wartet auf ihn: 

in einer eisigkalten Winternacht. Unter einem Dreiviertelmond, 

der schwach hinter abertausenden Schneekristallen hervor 

starrt und bleich grinst, als meinte zumindest er es gut mit ihr.

Ihre zittrigen Lippen formen seinen Namen. Zunächst durch-

bricht kein Laut das übermächtige Meeresrauschen.

> Tim? <

Nur ein brüchiges Flüstern.

Dann ruft sie nach ihm. Schreit den Namen, der sich ihr einge-

brannt hat!

Möwen stürmen landwärts, auf sie zu. Eine von ihnen setzt 

sich direkt zu ihren Füßen und hackt hungrig auf vereiste Stei-

ne ein, die den schmalen, groben Strand bevölkern.

Sie beugt sich hin, streckt die leeren Hände aus. Der zutrauli-

che Vogel legt den grauweissen Kopf seitwärts. An besseren Ta-

gen flogen Brotreste hoch in die sonnendurchflutete Luft und 

wieder zur Erde, über die sich die nimmersatten Möwen her-

machten. Heute nicht. Die Vorräte im Haus waren versiegt. 

 

Die hungernden Vögel rissen aus. Danny richtet sich auf, sieht

kaum noch was vor Augen. Doch dann...Ihr Wollen, das über-

mächtige Sehnen, alle Gedankenkraft stürmen hinaus...Werden

frei!...Formen schwache Umrisse...Schwache Bilder, die mehr 

und mehr Konturen annehmen....Sie sieht das blassblaue Boot 

in tosendem Schneestaub...Darin eine Gestalt in nassglänzender 

Gummijoppe. Sie vernimmt das gedämpfte Brummen des Mo-

tors. 

Er hält Kurs, direkt auf sie zu.

Nur noch einen Steinwurf weit, dann wird er hier an Land kom-

men. Sie werden sich wiedersehen. Werden sich....

Als das Boot scharrend auf Strandgeröll läuft, steigt der Mann 

aus, verflucht Wind und Wetter - kommt näher. Er grüßt die 

Frau am Ufer aus drei, vier Metern Entfernung; ruft gegen den 

Wind an: > Sie sollten nicht allein hierbleiben, solange der Win-

ter knüppelhart über Land fegt! <

Sie kennt den Mann flüchtig: es ist der Vogelwart von der Nach-

bar-Insel.

 

Erst nach langem Zureden läuft sie ins Haus zurück, sucht ei-

nige Kleider zusammen und steigt zu ihm, ins Boot. Sie ist er-

schöpft, fühlt sich niedergeschlagen - aber sie ist in Sicher-

heit.

 

Acht quälend lange Tage bleibt sie auf der benachbarten Vogel-

insel, bis das starke Schneetreiben endlich nachlässt.

 

 

2.

Als der lange Winter die Insel aus seinen frostigen Händen ließ,

war es schon Mitte März. Mild zogen linde Salzluft und hell-

blauer Himmel über Dünen, junge Gräser und schier endlose

Weite hin.

Die Freiheit, hier draußen, war ihr zu groß geworden. Seit Ta-

gen - nein, Wochen schon zog es Danny unwillkürlich zum

Festland hin. Sie wollte so gern alles nochmal in Augenschein

nehmen: ihren früheren Wohnort; das Haus, in dem sie lange

Zeit allein lebte. Ihr ´´Nest´´ mit der grünen Tür. Den Weg, der

direkt von der Tür zu raschelnd grünen Wiesen hinter Bächen

führte. Der Weg, den sie immer nur halb - und nur ein einziges

Mal zu Ende ging. Dahin wollte sie.

Abermals einer inneren, ihr immer noch unbekannten Stimme 

folgend, zieht sie eines Morgens ihren einzigen Koffer vom 

Schrank herab, verstaut Kleider darin - garnicht viele - nur so-

viel, daß es für wenige Tage reicht. Mehr würde sie nicht brau-

chen für die paar Tage, sagt ihr ein unbestimmtes Gefühl.

Sie verschließt ihr Haus und läuft vor, in Richtung kleinem 

Fährhafen.

 

Die Fähre legt nur eine Stunde später ab.

Sie steht die ganze Fahrt über oben, auf dem windigen Vorder-

deck - sieht das Festland langsam auf sich zukommen. Und lä-

chelt, als würde sie längst erahnen - und nun auch ganz deut-

lich spüren - was eigentlich nicht sein konnte...

 

Danny atmet tief die milde Märzenluft ein und genießt die ersten 

wärmenden Sonnenstrahlen. Die Jacke ist ihr zu dick; überhaupt: 

die Aufregung lässt ihr das Blut in den Adern kochen; die Hände 

werden feucht. Es ist, als wäre alles, wie damals....

 

Als sie sich dem Haus nähert, das ihr so vertraut ist und in dem sie 

die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht hatte, scheint es, 

als klänge ihr Gitarrenmusik entgegen.

´Tim, ach Tim!´ 

Das Haus ist weiß gestrichen und die Türe blau. Vor den Fenstern 

leuchten Narzissen, Tulpen, Primeln in bunten Farben. Einladend. 

Zaghaft tritt Danny näher. Kein Namensschild an der Türe. Ein 

Fenster ist gekippt und ihr strömt ein Wohlgeruch von Kuchen ent-

gegen. Vorsichtig klopft sie an die Glasscheibe. Niemand zu sehen.

Sie stellt ihren Koffer am Haustürtreppchen ab und läuft hinter das 

Haus.

Neben den in kräftigem Gelb blühenden Forsythien sitzt ein dun-

kelhaariger Mann über ein Buch gebeugt. Ihr stockt der Atem. 

Tim...? 

Nein, das kann nicht sein, dafür ist er zu jung.

Im gleichen Moment verlässt sie der Mut. Sie stolpert über eine 

Gießkanne, die am Gartenweg steht und erschrocken dreht sich 

der Mann zu ihr.

„Verzeihung; vor vielen Jahren war dies mein Zuhause und meine 

Erinnerungen zogen mich einfach hierher, weil dies ein Ort ist, an 

dem ich mal sehr glücklich war. 

„Möchten Sie eine Tasse Kaffee mit mir trinken?“

Lächelnd kommt er auf sie zu. 

„Ich bin Steffen“. 

Etwas verlegen und ungelenk nimmt sie auf dem bereit stehenden 

Stuhl Platz.

„Ich bin Danny“. 

Abrupt verschwindet sein Lächeln. 

„ Die Danny?....Dann sind Sie die Frau, die mein Paps sein Leben 

lang vermisst hat. Damals ging er von hier weg mit dem festen Vor-

satz, sein Leben zu ordnen, um mit Ihnen irgendwann seinen Traum 

zu erfüllen. Obwohl Sie sich nur kurz begegnet waren, fühlte er, 

dass er in Ihnen seinen Lebensmenschen gefunden hatte. Meine El-

tern trennten sich, weil sie ihre Liebe zueinander verloren hatten 

und keine Wärme mehr vorhanden war. Ich blieb bei meinem Vater. 

Der schrieb immer wieder Briefe an diese Adresse, die nie beant-

wortet wurden, aber auch nicht zurück kamen. Wie er später erfuhr, 

stand das Haus leer und zum Verkauf. 

Die Briefe hatte ein aufmerksamer Postbote an einer sicheren Stelle 

unterm Dach deponiert, da kein Absender zu erkennen war. Als Paps 

die Mittel hatte, das Anwesen zu kaufen, erwarb er es. Ich wurde in 

der naheliegenden Stadt eingeschult und er brachte mich, bis ich al-

leine mit dem Fahrrad radeln konnte, dorthin. Unseren Lebensunter-

halt bestritt er mit Reportagen, die er für eine Tageszeitung schrieb. 

Bis in die späte Nacht saß er abends oben in seiner Schlafkammer 

und schrieb all seine Träume und Hoffnungen in ein Tagebuch. An

lauen Sommerabenden saß er dort, hinter dem Holunderbusch, zog

an seiner Zigarette und trank seinen Schwarztee. Manchmal, wenn 

ihn die Melancholie einholte, spielte er auf seiner Gitarre „Sound of 

Silence„ und sein verschleierter Blick wanderte in die Ferne...Er war 

mir ein guter Vater und ich habe ihm viel zu verdanken...Vor zwei 

Jahren verstarb er. Als es mit ihm zu Ende ging, deutete er auf eine 

kleine Holzkiste, die ich ihm dann brachte. Ein Stapel ungeöffneter 

Briefe an „Danny“, eine zusammengefaltete Serviette, eine Haar-

spange und sein Tagebuch waren darin. Ich schenke sie Ihnen...“

 

Danny´s Augen füllen sich mit Tränen, als sie das hört. Die Servi-

ette vom Kaffeetisch und die Spange, die er ihr behutsam aus dem 

Haar gezogen hatte. 

´Ach, Tim...´ 

Lächelnd wischt sie sich die Tränen weg.

 

Steffen schenkt ihr Kaffee nach und berichtet ihr von seinem Joban-

gebot in Amerika. 

„Danny, möchten Sie hier wohnen? Ich bin bestimmt für zwei oder 

drei Jahre im Ausland.“

„Nein, Steffen, vielen Dank. Ich durfte mit Ihrem Vater wunderbare 

Momente hier verbringen und das möchte ich so in Erinnerung be-

halten. Dass Sie beide füreinander da waren und er im Alter nicht 

einsam war, beruhigt mich sehr...Jetzt muss ich aber zusehen, dass 

ich die Fähre noch erreiche...Danke, Steffen. Melden Sie sich doch 

irgendwann bei mir. Es interessiert mich, wie der neue Job sein 

wird und überhaupt...Sie sind eben ein Teil von ihm.“ 

Fast zu schnell eilt sie davon.

 

 

3.

Im Winter, danach, ächzt die Insel unter hohen, gefrorenen Schnee-

massen. Fast niemand der Einheimischen traut sich noch aus den 

weithin verstreuten, hingeduckten Reethäusern. Die Tage sind klir-

rend kalt. Der unerbittliche Ostwind fegt eine Schneewehe davon, 

um sie anderswo wieder aufzutürmen. 

In einer dieser langen, sternenlosen Neujahrsnächte vernimmt Dan-

ny plötzlich ein Geräusch von draußen, das so garnicht in diese Ein-

öde passen will: ein Rufen. Zwar gedämpft und wie aus weiter Fer-

ne, jedoch laut genug, daß ihr Tims´ Tagebuch, in dem sie gerade 

zum soundsovielten Mal las, vor Schreck aus den klammen Händen 

fällt. 

Sie ist nicht mehr so rüstig, springt aber dennoch ungewohnt flink

auf, um an´s Fenster zu eilen - das, aus dessen Richtung sie das Ru-

fen vermutet.

Schneeböen wirbeln nach wie vor um das Haus; rütteln daran. Das

Fenster zum Meer hin ist fast gänzlich von weißen Flockenschlei-

ern belagert. Doch sie sieht es ganz deutlich....Ein Boot landet in-

mitten von Sturm und unwirklich anmutender See, die beinah in

völliger Schwärze brandet, am Ufer an. Die gebeugte Gestalt, da-

rin, richtet sich schließlich zu ganzer Größe auf; blickt im Licht-

fetzen des Hauses, das gerade noch schwach bis zum Ufer reicht,

genau dahin, wo sie mit bebendem Herzen steht.

Die Gestalt kommt näher. Noch näher...Steht nun leicht taumelnd 

im eisigen Wind - nur noch etwa zwei Meter von Haus und Fenster 

weg.

Sein Gesicht....Sein vertrautes Lächeln....Wie einst und immer.

 

Sie spricht die Worte nicht aus, die gerade noch über ihre Lippen 

kommen wollten. Lässt ihn herein. Dann erst löst sich alle Anspan-

nung und sie lächelt erlöst.

Dies alles kann nur Einbildung sein - nur Illusion - sie ahnt es. 

Trotzdem: sie spürt ihn seit Jahren nie intensiver und näher, als in 

diesem Augenblick....

 

 

Erzählung: (c) Ralph Bruse

In einer Winternacht 

 

 

Den Abend, der alles aus den Angeln hob, wird sie nie vergessen….

Es ist schon spät. Winnie sitzt immer noch an ihrem Tisch, vor dem Fens-

ter, über ihre Schularbeiten gebeugt, den Kopf in die Hände gestützt: lust-

los – sieht abwechselnd hinaus und auf die Geschichtsarbeit, die einem 

riesigem Berg gleicht, den es zu bezwingen gilt.

Sie mag weder das eine, noch das andere. Geschichte war vorgestern und 

Berge flößen ihr Respekt, eher Angst ein. Sie klappt schließlich ihr Schul-

heft zu und beschließt trotzig, morgen eine Fünf in Geschichte mit nach 

Hause zu bringen. Vater wird nachsichtig sein - wie immer. Er hat genug 

mit sich selbst zu tun: trinkt nach der Schicht auf der Werft seine vier, 

fünf Biere, dazu zwei, drei Weizenkorn. Dann wankt er zum Bus, der ihn 

heimwärts fährt, klettert oben, an der Chaussee heraus und trudelt heim-

wärts, ins Dorf – eher Siedlung – ins alte, schäbige, kleine Haus, das er 

und Winnie bewohnen. Zweieinhalb Zimmer, die Küche, Klo und Wasch-

gelegenheit im Flur. Warmwasser gibt es nur dann, wenn der schrottreife 

Boiler anspringen will – meist will er nicht. 

Winnie fühlt sich dennoch wohl in ihrem Nest. Alles Vergangene ist weit, 

weit weg. Liegt in der nächsten Stadt in Scherben, oder begraben: kommt

ganz auf die Sichtweise der Betreffenden an. Vater´s  Scheidung ist erst 

ein paar Wochen her. Die Trennung von ihren drei Geschwistern schmerzt 

Winnie nicht sonderlich. Nur Ben, den älteren Bruder, der bei der Mutter

blieb, vermisst sie sehr. Dennoch: sie hängt übermächtig an ihrem Vater - 

und er an ihr - also blieb sie an seiner Seite. Warum sie ausgerechnet ihm -

dem gutmütigen, oft hilflosen Trinker zuspricht, kann sie sich selbst nie 

recht erklären, will sie mittlerweile auch nicht mehr: ihnen beiden geht es 

gut in dem abgelegenen, windschiefen Häuschen, sie hungern nicht, Vater 

trinkt sein tägliches Quantum Alkohol, aber weniger, als früher und nur 

so viel, dass er immer nach Hause zurück findet, in den verschlafenen Ort.

Die Siedlung zählt gerade mal acht Häuser, deren betagte Bewohner man 

auch nur zu Gesicht bekommt, wenn sie die Schotterstraße rauf, zur Bus-

haltestelle stapfen, um in der Stadt Einkäufe zu erledigen. Kaum zwei 

Stunden später kommen sie dann, mit Körben und Tüten beladen hierher

zurück, um wieder hinter undurchdringbaren, spröden Mauern zu ver-

schwinden. Schon am späten Nachmittag verstummt jeder Laut im Ort. 

Kein Hundegebell, keine jaulenden Katzen, kein Hahnenschrei: nirgend-

wo freilaufende Streuner, oder solche in Zwingern oder Käfigen. Die Leu-

te brauchen offenbar nur sich selbst – und aus den Nachbarorten verirrt 

sich auch nie ein hungriges Tier in die Siedlung.

Sieben Häuser in nächster Nähe: in ihnen sieben allein lebende, alte Leu-

te. Nur in Haus Nummer acht wohnen sie zu zweit: Winnie und ihr Vater.

 

Jetzt ist es stockduster da draußen. Und strenger Winter. Gerade als Win-

nie den Stuhl zurück schiebt, um kurz vor Mitternacht ins Bett zu schlüp-

fen, fallen erste Schneeflocken vor ihrem Fenster herab. Dicke, große Floc-

ken, die im gelben Licht der Tischlampe beinah gespenstisch schön glit-

zern  und sanft wehend am Fensterglas lecken, um sich in regenbogenfar-

bene Tropfen zu verwandeln. Winnie löscht das Lampenlicht, legt sich nie-

der, blickt zum Fenster hin und wartet darauf, dass tröstlicher Schlaf sie 

holt. Die Tür zum Nebenzimmer, wo Vater schläft und meist lautstark 

schnarcht, steht einen Spalt offen: steht sie immer, weil sie einander auch

liebevoll Gute Nacht! zurufen.

Gute Nacht, Papa! ruft Winnie also auch diesmal.

Doch es kommt keine Antwort aus dem anderen Zimmer.

„Papa…“?

Wieder keine Antwort.

Er war doch nach der Arbeit hier, überlegt sie. Hatte nach der Arbeit 

mit anschließendem Gaststättenbesuch den Bus genommen, war oben, 

an der Chaussee ausgestiegen, kam später hier herein, sie hatten zusam-

men ihr Abendbrot gegessen, Vater setzte sich zufrieden schnaufend in

seinen Sessel, schaute sich die Nachrichten im Fernsehen an – döste ein,

schnarchte selig vor sich hin, während sich Winnie widerwillig die Schul-

aufgaben vornahm – immer das sonore Geschnarche ihres Vaters hö-

rend.

Doch dann musste es irgendwann verstummt sein, oder sie hatte es 

einfach nicht mehr wahrgenommen. Vielleicht ging er nochmal ins Freie.

Nichts Ungewöhnliches: er schlappte öfter vor der eigentlichen Schlafens-

zeit nochmal raus, um eine zu paffen, oder die Siedlung etwas zu inspizie-

ren, wo es nach Tagesuntergang eigentlich nichts mehr zu inspizieren

gab: außer Stille, den fernen Schrei einer Eule, oder den Sternenhimmel,

weit oben.

 

Heute gibt es keinen Sternenhimmel – nur den ohne Sterne, der so an 

die Millionen, oder Zehnmillionen Schneeflocken ausschüttet. Kalt ist 

es dort draußen. Bitterkalt. Und Vater ist nicht im schützenden Haus - 

ist irgendwo hingegangen: vielleicht gedankenverloren, oder kurzzeitig 

verwirrt – ganz sicher aber ist er in Not – sie spürt, fühlt es überdeut-

lich und körperlich!

Ganz plötzlich sieht sie schreckliche, scheinbar zusammenhanglose Bil-

der, die das Dunkel ihres Zimmers durchdringen….Ganz klar...Aber ei-

gentlich nur das eine Bild, das alle anderen überlagert und letztlich wie 

eine Bedrohung hoch und viel höher aufsteigt, als sämtliche anderen 

Bildfetzen, die alsbald wieder verschwinden – genauso schnell, wie sie 

kamen. Aber dieses eine wandgroße Drohbild bleibt….

 

Er liegt im Schnee…Beinah wie begraben: er rührt sich nicht, atmet auch 

nicht…Ein Weg ist zu erkennen, doch der Weg wird zum schmalen Pfad, 

er verliert sich unter Schneemassen. Alles verliert sich: Teich, Wege,

Häuser, die wenigen, noch flackernden Fensterlichter. Nur noch Schnee,

der wie entfesselt niederfällt und alles mit weißer Kälte überzieht. Sie er-

kennt den im Schnee liegenden Mann nun ganz genau...Es ist ihr Vater!

Dann jene kurz aufblitzende Vision, dass der Mann im Schnee plötzlich 

schwach den Arm hebt, auch der Kopf schlingert etwas in die Höhe, sein 

Mund reisst weit auf: ruft – nein – schreit…! Ihren Namen???Mit letzter 

Kraft, mit großen ungläubig starrenden Augen, den nahen Tod ahnend, 

öffnen sich die schreckensweiten Augen immer noch weiter, bis es nicht 

mehr weiter geht und sie sich dann doch kraftlos wieder schließen - Kopf, 

Arm und jeder Mut herab sinken, sich ergeben – und der letzte Hilfe-

schrei stumm wird.

In sicherer Entfernung erkennt sie deutlich die Umrisse zweier schwarzer 

Vögel in diffusem, weißem Gewölk. Stumm, völlig reglos sitzen sie dort, 

als wollten sie lediglich über das bisschen Leben des Mannes wachen, 

ihm letztes Geleit geben, ohne ihm Böses zu wollen, oder ihm ausgehun-

gert die Haut in Fetzen zu reißen….

 

Winnie springt hoch, reißt im Flur nur Mantel und Stiefel an sich, kriecht 

hinein…stolpert, fängt sich wieder, stürmt zur Tür – raus, in die klirrend 

kalte Winternacht.

Wadenhoher Schnee hindert sie am Vorankommen. Mühsam schleppt sie

sich weiter. Erbarmungslos fallen ihr harsche Flocken wie spitze Nadeln 

in die Augen – versperren ihr jede Sicht. Wütend versucht sie den anstür-

menden Schnee mit den Händen fortzutreiben, aber es gelingt ihr nicht – 

ist völlig sinnlos - die weißen Nadeln tanzen fauchend weiter im aufleben-

den Wind.

Warum ist ihr Vater verschwunden – und wohin

 

Sie versucht, sich an die Vision zu erinnern: Gab es da vielleicht einen 

markanten Punkt: ein Haus, eine Kirche, einen Baum – irgendetwas, das 

ihr den Weg dorthin zeigen kann?

Der Schnee erhellt die Nacht etwas. Ein Glück, denn sie hat in der Eile die 

Taschenlampe zuhause vergessen. 

 

Die Siedlung liegt bald weit hinter ihr. Verzweifelt irrt sie suchend durch 

die Nacht. Alle Wege haben sich inzwischen unter dem Schnee versteckt. 

Nur unberührtes, endloses Weiss, in dem sie sich verloren fühlt.

Da, ganz plötzlich vernimmt sie von Weitem ein Wimmern – oder Flüs-

tern. Sie schreit lauthals: „Papa, wo bist du?“ 

Nichts. 

„Papa!?“ Kein Mucks. Nicht der leiseste Piep.

Sie holt sich einen langen Pfahl aus dem Holzstapel, der links von ihr,

unter einer Schneehaube liegt und gerade noch aus dem Schnee ragt.

Vielleicht kommt sie damit im Tiefschnee leichter voran - kann auch vor-

sichtig damit hineinstoßen, um hoffentlich noch Leben darin zu finden.

 

Dort, am Waldrand sieht sie etwas in die Höhe ragen …Und wieder sin-

ken. Ihr Blut, das wie vereist schien, fliesst schlagartig wieder heiß durch 

ihren Körper. Kalter Schweiß überfällt jede ihrer Hautporen und ihr Kopf 

droht zu zerspringen. 

„Papaaaa!!!!,“ krächzt sie heiser und verzweifelt, bis ihr die Stimme völlig

versagt.

 

Endlich erreicht  sie schnaufend das Ziel. Dort liegt er: ihr geliebter Vater.

Sie beugt sich schluchzend nieder. Greift nach seinen kalt gefrorenen Hän-

den. Sein ganzer Leib ist bleich und fast zu Eis geworden: steif, merwürdig

verkrümmt alle Gliedmaßen. Nur den Arm bewegt er schwach. Die Augen 

kann er kaum öffnen und seine Lippen flüstern Unverständliches. 

Winnie beugt sich noch tiefer zu ihm hinab, haucht ihren Atem an seine 

kalten Wangen, als sie Schritte im knirschenden Schnee wahrnimmt.

„Papa, du hast gerufen,“ stammelt jemand im Hintergrund. 

Ben, ihr Bruder. Verzweifelt weinend und bei allem glücklich umarmen 

sie sich….

 

Genau zehn Jahre sind seit jener unheimlichen Nacht vergangen.

 

Winnie hat den Tisch gedeckt. Auf der Kommode, nah am Fenster, steht

Papas Foto. Daneben hat sie eine Kerze angezündet und den alten Plat-

tenspieler hervorgeholt, um sein Lieblingslied aufzulegen. Verzerrt singt 

da jemand mit kratzender Stimme von Liebe.

Gleich kommt Ben, ihr Bruder.

 

Heute morgen fiel der erste Schnee dieses Jahres. 

Die Tage sind grau. Es wird früh dunkel. Die Flocken segeln spätabends

immer noch sanft am Fenster lang. Ben und Winnie schauen hinaus...

Erkennen zwei schwarze Vögel im kahlen Baum. Sie hocken friedlich da -

ganz still, als wollten sie  nur zu ihnen hereinschauen, ohne jede Arglist. 

Bald sind sie eingeschneit: ganz weiss.

 

 

Erzählung: (c) Ralph Bruse

Schneespuren

 

 

Sie saß im Zimmer – saß allein

Beim dritten, vierten Glase Wein

Und niemand kam zu ihr

 

Harscher Frost kratzt an den Scheiben

Als wolle er auf ewig bleiben

Im warmen Jetzt und Hier

 

Sie liebt die Abgeschiedenheit

In stiller, dunkler Winterzeit

Am altvertrauten Ort

 

Von fern erklingen Abendglocken

Der Hund erwacht und eilt erschrocken

Zur nahen Zimmertür

 

Zufrieden wedelnd kommt er wieder

Legt sich auf die Decke nieder

Und hört ihr schläfrig zu

 

Sie spricht von bunten Kinderjahren

Von Schneemann bauen, Schlittenfahren

Und vom geschmückten Baum

 

Von Liebe und den Schmerzen dann

Auch von dem fremden, fernen Mann,

den sie kaum kannte. Und doch...                                    

 

Beim nächsten Glase wallt ihr Blut               

Sie fühlt sich frei, fasst langsam Mut              

Greift zaghaft noch zum Telefon                        

 

Draußen peitscht der raue Wind

Sie legt den Hörer hin geschwind

Läuft weit hinaus, ins Freie

 

Von weither, am verschneiten Wald

Im Dunkel dort - steht die Gestalt

Vom vollen Mond erhellt

 

Sie fröstelt, zweifelt: Ist´s der Wein?

Ist ER es wirklich? Alles Schein?

Der Mann kommt in ihr Haus

 

Noch weht Reif aus seinem Haar

Das einst so voll und dunkel war

Es schimmert silbrig weiss

 

Entkräftet von der langen Reise

Umarmt er sie und flüstert leise:

> Schick mich nicht fort. Nicht heute. <

 

Es ist schon weit nach Mitternacht.

Der Mond hält tapfer schützend Wacht -

spaziert umher im Zimmer

 

> Ich war nie wirklich von dir weg, <

sagt er, nach ihrem leichten Schreck.

> Wo du warst, war ich immer. <

 

                           *

 

Nach Wochen kam sie in sein Haus.

Bei Tag sah es verloren aus.

Im Dämmern doch betörend schön.

 

Es stand von Schnee und Eis umschlungen,

dem Wald, Gezeiten abgerungen,

geduckt im Abendwehn.

 

Vom Weg aus sah man manchmal nur,

danach im Tiefschnee beider Spur,

im Lichtschein, vor der Nacht.

 

 

Ballade & Foto: (c) Ralph Bruse

Das Leuchten des Bösen

 

 

Das neunjährige Mädchen schrie erbärmlich, als die Häscher ins Haus kamen, um

ihr die Mutter zu entreissen und sie nur einen Tag danach öffentlich als Hexe, an

einen Pfahl gebunden, auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.

Die vermeintliche Hexe war ein liebevoller Mensch. Sie achtete mit aller erdenkli-

cher Fürsorge auf das Wohl ihres einzigen Kindes. Doch in manchen dunklen Stun-

den war sie auch unbeherrscht und in sich verloren, hantierte mit allerlei Salben

und Kräutern, die Kranken halfen. Flüche und Verwünschungen, die sie nur gele-

gentlich und in dem Glauben an Gerechtigkeit aussprach, wurden Wirklichkeit.

Und bildhafte Vorhersehungen, die sie öfter in Tag- und Nachtträumen befielen,

trafen kurz darauf und fast immer ein. Das sprach sich schließlich herum. Manche

Leute bewunderten die merkwürdige Frau im Viertel, aber die meisten mieden

sie, oder begegneten ihr mit offener Ablehnung - sogar Hass.

Man sah sie oft lange in der Sonne mit dem Kind zur Seite vor der Tür des alten

Hauses stehn. Das Mädchen hieß Gitta. Das Tier, das die Frau ständig fest an die

Brüste gedrückt hielt,   hatte keinen Namen. Es war nur ein Tier von vielen:

schwarz, mit weissem Bauch und grünen Augen. Es rannte ihr noch treu nach, als

die Häscher schon ins Haus stürmten. Und lief auch noch voller Unruhe zwischen Menschenleibern umher, als auf dem Marktplatz der Feuerhaufen längst erlo-

schen war. Erst viel später kam es zum vertrauten Haus zurück, aber niemand

ließ es dort ein. Es legte sich draußen, vor der Tür, nieder - trauerte jammernd

und starrte immerzu ins schwach erleuchtete Innere, wo das Kind nun ganz allein

war - ohne die Mutter. Es war, als würden sie stumm einander brauchen: Mäd-

chen und Tier. Trösten wollte man sich aber dann doch allein: zumindest das Mäd-

chen - nicht das Tier, draußen, in der Kälte. Es schlich sich irgendwann fort, kam

aber wieder zum Haus zurück - nach vielen Tagen noch. Bis sich die Tür nach

drinnen schließlich unverhofft öffnete....

 

 

Jahre danach:

 

Eines nachts war sie einfach da: die Katze.

Draußen war es bitterkalt. Rauhreif hing über der Straße, auf der ich heimwärts

ging. Ich griff in die Manteltasche und kramte den Haustürschllüssel hervor.

Plötzlich jaulte es aus der dunklen und zugigen Toreinfahrt, nebenan. Zwei grün-

funkelnde Augen starrten mich durchdringend an. Eine dicke, schwarze Katze mit

weißem Bauch hockte auf dem kalten Vorsprung der Treppe.

Ein gehöriger Schrecken fuhr mir durch die Glieder. Weniger wegen der gespens-

tisch leuchtenden Katzenaugen, als vielmehr wegen meiner Unvorsichtigkeit, ihr

beinahe auf den buschigen Schwanz zu treten. Die Katze sprang zur Seite und be-

lauerte mich abwartend.

Ich öffnete die Tür, hielt sie fest, zündete  das Flurlicht an, sagte: " Eigentlich kann

ich Katzen nicht aussteh´n...Kann ja noch werden. Und wenn´s dir da draußen zu ungemütlich ist, und du nichts Besseres vorhast, kannst du die Nacht deine Pfoten

an meinem Ofen ausstrecken."

Die Katze spitzte die Ohren, kniff die von Licht geblendeten Phosphoraugen, leckte

sich leicht verlegen die Vorderpfote. Anscheinend traute sie mir nicht. Sie machte

auch keine Anstalten, näher zu kommen. Hockte nur da, auf der Steintreppe und

zwinkerte mich mit gesundem Misstrauen an.

" Bist´n wählerisches Sensibelchen. Na schön, dann bleib halt draußen."

Im Nachbarhaus klappte scheppernd eine Tür. Die Katze sprang, wie vom Blitz ge-

troffen in den Hausflur, suchte instinktiv Schutz zwischen meinen Hosenbeinen. Ihr

Leib zitterte erbärmlich. Sie spähte ängstlich nach draußen und ihre Augen öffne-

ten sich schreckensweit.

Was hatte sie nur?

Katzen waren mir nie besonders sympathisch. Ihre bevorzugte Beute: Mäuse hin-

gegen schon. Das schien sich gerade ins Gegenteil umzukehren. Das jammervolle Schutzbedürfnis des Tieres kroch mir durch Mark und Bein, hoch, ins Herz: schon

flogen sämtliche Vorurteile im säuselnden Abendwind davon. Ich beugte mich zu

dem zitternden Fellbündel nieder, streichelte es behutsam. Das Zittern des Tieres

ließ etwas nach. Die grünen Augen hefteten sich flehend an mich.

Ich hob sie in meinen Arm und kraulte ihren breiten Nacken, während ich beruhi-

gend auf sie einsprach. "Hier krümmt dir keiner ein Haar. Nur die nebenan können

dich nicht leiden, stimmts? Ist ja auch kein Wunder...die Leute da, ziehn lieber mit

´ner Horde zähnefletschender Kampfköter um die Häuser...Groß wie Kuhbullen,

die Kläffer!"

Die Katze jaulte, als wollte sie zustimmen. Sie schmiegte sich, in Brustnähe wühlend

noch mehr an und schnurrte beruhigt. Ich ging ins Haus, setzte die Rumtreiberin

vorsichtig in die Ofenecke, schob etwas Holzkohle ins Ofenloch - und allmählich

schlingerte wohlige Wärme durchs Zimmer.

Frische Milch hatte ich keine im Haus, aber Dickmilch wird´s auch tun, dachte ich - unwissend, dass Rumtreiber gerade auf Dickmilch ganz wild sind.

Ausgehungert machte sich die Katze über die Milch her. Danach leckte sie sich

ausgiebig Pfoten, Fell und sogar den buschigen Schwanz. Schließlich legte sie sich

dösend am Ofen nieder und streckte zufrieden alle Viere von sich. Ihr nassglänzen-

des Fell trocknete zusehends. Es knisterte sogar elektrisierend, dort drüben, am

Ofenloch. Ich hatte Sorge, das knisternde Haar würde in Rauch und Flammen auf-

gehen, aber das Fell stellte sich nur auf, als würde es sich von selbst striegeln und

glätten. Nicht das kleinste Feuer entzündete sich, trotz gefährlicher Nähe des Tie-

res zum von Funken umflirrten Ofenloch.

 

Alles war friedlich und gut.

Eine Weile später ging ich zu Bett.

Die Stille im Haus kam mir merkwürdig und heute gefühlt ganz anders, als sonst,

vor. Selbst meine ´Untermieter´- die gelegentlich eifrig in Keller und Fluren wu-

selnden Hausmäuse schienen zu spüren, dass in dieser Nacht nicht mit ihnen ge-

spaßt wurde - dass da etwas war, das ihnen an den Kragen wollte. Unerklärliches,

nichts Greifbares, hatte im Ganzen irgendwie vom Haus Besitz ergriffen.

Ich horchte in das Zimmerdunkel. Die Katze schien in Schlaf versunken zu sein.

Kaum hörbar strich ihr Atem aus der Ofenecke herüber. Ich zog die Decke höher.

Zählte mich in den Schlaf. Eine Maus...Zwei Mäuse...Fünf...Hoppla, nur noch vier...

Eine war für die Katze.

 

Gegen zwei Uhr früh erwachte ich.

Es raschelte im Zimmer...! Aber das Rascheln war ebenfalls anders als sonst, wenn

Mäuse wuselnd durchs Haus flitzen, oder es im Gebälk knarrt. Ein Fenstervorhang schaukelte, wie von flauer Nachtluft, draußen, angehaucht...Das konnte eigentlich

nicht sein, denn alle Fenster waren geschlossen - dachte ich...Jetzt aber stand der

Mond groß und fast voll vor dem weitoffenen Fenster und senkte sein Licht ins ra-

schelnde Raum-Dunkel.

Das Geraschel hob zum Scharren an - nein, zu einem schlurfähnlichen Geräusch -

gerade so, als würde ein Mensch schwerfällig durch´s Zimmer gehn.

Ich horchte nervös und angestrengt in die laute, schaurige Stille. Da war es wieder:

jenes Schlürfen...!Der Vorhang schwang hin und her - und jemand durchlief das

schwarze Zimmer...Ich schnellte hoch und kniff die sich langsam schärfenden Au-

gen.

Plötzlich eine Stimme: leise und säuselnd - direkt an meinem Ohr.

" Du bist wie ich," wisperte es. "Komm"...

Ich sprang ganz auf, wirbelte erschrocken herum. Aber ich sah niemanden. " Wer

ist da?!," rief ich mit drohender und trotzdem bebender Stimme.

Nichts rührte sich.

Die Stimme schwieg, das Schlurfen verstummte und der Fenstervorhang stand augenblicklich still, als hätte jemand seine eisige Hand daran gelegt.

Barfuß durcheilte ich das Zimmer. Blendend stürzte sich Tageshelle in den Raum.

Ich gewöhnte mich allmählich und öffnete die verkniffenen Augen noch leicht ängst-

lich.

Nichts. Niemand da.

Alles wie immer und am alten Platz.

Die Katze döste eingerollt vor dem kalt gewordenen Kachelofen. Sie hob kurz und

behäbig ihren schneeweißen Bauch, streckte die Vorderpfoten weit vor, das Hinter-

teil aufwärts - gähnte ausgelassen. Leckte noch zwei- dreimal an ihren Tatzen und

sackte wieder dahin, wo der Platz wohl noch warm von ihr war. Völlig harmlos, das

Tier. Dennoch: funkelnd, beinah unnachgiebig starrten mich ihre Augen an. Das

reinste Flunkern und Täuschen: diese Augen sind nicht schläfrig..! Sie durchbohr-

ten mich geradezu mit schärfsten Klingen und ungeahnter Kraft!

Dann plötzlich ganz anders...Das würdige, wohlige Schnurren des Tieres bezähmte

meine innere Unruhe. Mehr noch: es hypnotisierte mich geradezu! Die Smaragd-

augen des Tieres zwangen mich zurück, ans Bett, drückten mich nieder, zwangen

zum Liegenbleiben. Schreckensstarr konnte ich lediglich den Kopf seitwärts drehen.

Und was ich sah, beruhigte mich ganz und gar nicht...Und irgendwie dann doch...Die funkelnden Augen sprangen mich fast an, durchdrangen mich auch mit wohlwollen-

den Blicken. Mein fast tauber Leib konnte nicht mehr reagieren.

Ich wollte mich aufrichten, wollte aufstehn, um die  Lichtflamme zu löschen schaffte

es aber nicht. Unter größter Kraft - und Willensanstrengung hob ich meinen blei-

schweren Leib. Zuerst die Beine...Ganz langsam...Meine Blicke krochen zeitlupen-

ähnlich in die Ofenecke. Dort erhob sich nun ebenfalls die Katze. Sie schlich würde-

voll, fast angeberisch zur Tür hin.  Dabei ließ sie mich keine Sekunde lang aus den Augen...Grauenvoll und zugleich magisch fesselnd: ihr vornehmes Getue und sanf-

tes Schreiten, zur Türe hin...Ein Sprung, hoch zum Licht, um es zu löschen.

Dunkelheit. Alles wieder in Schwarz versunken. Doch durch die Schwärze kamen

wieder ihre Augen: die großen, grünen Funkelnden. Unergründlich, unerbitterlich

kamen sie näher und näher - direkt auf mich zu. Nein, sie schwebten völlig losge-

löst über mich hin, umtänzelten mich halb kreisend und halb zur Wut treibend!

Schweiss rann mir in dicken Bächen von der heissen Stirn. Das Herz raste so, als

würde es gleich platzen oder stillstehn - explodieren, oder anhalten, weil ich nicht

wusste, ob am Ende Angst, oder betörendes Schaudern siegen würde.

Die säuselnde Stimme hob erneut an. " Du bist wie ich...Komm zu mir!"

Ich konnte nicht sprechen, konnte kaum atmen - aber aufstehn und gehen konnte

ich endlich wieder. Nicht aus eigener Kraft, sondern weil es jemand von außen be-

fahl...Wie ein willenloses Geschöpf streckte ich die Arme vor, um die grünen Katzen-

augen zu erreichen...Wie ein belohnter Schatzsucher öffnete ich die schweißnassen

Hände und fand die grünen Smaragdaugen darin...Ja, flirrendhellen Edelsteinen

gleich, fielen sie mir in die Hand...Überirdisch schön anzusehn.

Dennoch schrie ich auf vor Entsetzen!

Bin ich etwa verrückt geworden?

Hatte mich das Tier endgültig um den Verstand gebracht und in den Wahnsinn ge-

trieben?

Was geht hier vor???

 

2.

Einige Tage danach kam Sören nach achtwöchiger Seefahrt heim. Die Katze, die ihm seltsamerweise sofort auswich, mochte er auf Anhieb nicht. Beide belauerten sich misstrauisch, irgendwie auch abwartend. Das Tier hockte im Kücheneck, während

Sören und ich alsbald zu Abend aßen. " Gitta, schaff mir das Vieh vom Hals", schnarr-

te Sören. " Es ist mir nicht geheuer."  

'' Ist doch nur eine harmlose Streunerin", beruhige ich ihn. Und: "Also, ich mag sie inzwischen."

 

Wo wir auch hingingen - von der Küche ins Wohnzimmer, oder von dort aus ins Schlafzimmer: überallhin folgte uns das Tier und beobachtete uns unablässig aus si-

cherer Entfernung.

Sören war nach langer Zeit auf See hungrig nach Liebe und Zärtlichkeiten. Ich nicht weniger. Wir schlossen recht bald die Schlafzimmertür hinter uns - doch die Katze

war schon drinnen. Sören hatte das Tier nicht bemerkt - ich aber schon. Es saß da,

im Zimmereck- starrte und starrte uns völlig reglos - nein, starrte  mich durchdrin-

gend an - während Sören mich verlangend und wild küsste und wir hintenüber in un-

seren Lustrausch fielen.

Das ohrenbetäubende Fauchen der Katze bemerkten wir nicht. Erst, als sich ein

schwarzer, haariger Klumpen wild auf mich stürzte, erschrak ich. Im gleichen Mo-

ment spürte ich den stechenden Schmerz der blutenden Kratzspuren auf meiner

Brust.

Sei´s drum - im Feuertanz der Leidenschaft vergaß ich alles um mich herum. Wie

betäubt sog ich Sören´s Küsse ein und wand mich stöhnend unter seinem heissen

Körper. Berauscht riss ich ihn mit hinein ins Inferno der Gefühle. Glühend suchte

ich seinen Blick und erstarrte, als er mich aus kalten, smaragdgrünen Augen mus-

terte...Nichts mehr von Sehnsucht, Zärtlichkeit und Liebe war da zu erkennen. Nur

grelles Gift.

Als ich mich losreißen wollte, hielt er mich mit haarigen Pranken umklammert und

sein gellendes Lachen drang durch die Nachtschwärze. Hilfesuchend streifte mein

Blick durch das Rauminnere.

Wo war die Katze?

Nebenan - dort, auf der Bank am Kachelofen saß sie und leckte an ihrem weißen

Bauch. Sie hob den Kopf und schwarze, leere Augenhöhlen starrten mir entgegen.

 

 

Erzählung & Foto: (c) Ralph Bruse

Land im Nebel

 

 

Kreischend irrt ein Unheils - Schrei

durch die lange, finstre Nacht....

Stirbt hin,

verstummt,

ist schon vorbei.

Vorbei, vorbei.

 

Was bleibt ist öder, nasser Schein,

in dem wer lacht.

Ja, lauthals lacht.

 

Ein Mann in grauer Gummijoppe,

stapft scheu in Nebelsuppe hin.

Am Teich, die Jungen, drohn mit Kloppe -

aus Spaß und ohne jeden Sinn.

 

Der Mann eilt weiter - hin, zum Ziel:

Die Kirche, mit dem Funzellicht.

Bis dahin Schwärze - viel zu viel

und wenig bis gar keine Sicht

 

Schwere Nebel wehn und ziehn

träge vom Nordmeer her.

Die Letzten - auch die Jungen - fliehn,

als gäbe es kein Morgen mehr.

 

Die Türe quietscht.Der Mann tritt ein.

Die Schritte knarrn auf Bohlen.

Im Kirchenschiff aus Glas und Stein

wird ihn die Stille holen.

 

Ein Schatten huscht im trüben Licht

durch dunkle, schmale Gänge;

doch die Gestalt, die sieht er nicht -

hört nur bedrohend laute Klänge.

 

Der Orgel Schall dringt ihm ins Ohr.

Er hebt den Blick zu der Empore.

Nur er hier. Niemand sitzt davor.

Kein Mensch betrat nach ihm die Tore.

 

Er zieht sich die Kapuze über.

Die Bank bewegt sich unter ihm.

Er hält sich fest, beugt sich vornüber.

Es ist zu spät, jetzt noch zu fliehn.

 

Die Orgelpfeifen schwirren nun

lautklirrend ihm um Kopf und Kragen.

Er kam hierher, um auszuruhn

und um sich selbst zu hinterfragen.

 

Er suchte Stille...nicht Dämonen.

Das war der Grund, hier zu verweilen...

im Haus, in dem auch Engel wohnen

würd´ihn das Unglück nicht ereilen.

 

Angstschweiß rinnt ihm in den Kragen

und seine Hände zittern kalt.

Genauso, wie in jenen Tagen

sieht er vor sich nun die Gestalt:

 

Die Bernsteinaugen dieser Frau

hielten ihn fest in all den Jahren.

Er sieht sie noch im Morgentau -

sie brachten ihn stets in Gefahren.

 

Er wollte Sie nie wiedersehen.

Die Wunden waren viel zu tief.

Jetzt fühlt er sie dicht vor sich stehen.

War sie´s, die Geister in ihm rief?

 

Der Mann erschaudert vor dem Spuk -

will weg hier und weiß nicht mehr, wie.

Ist alles Wahrheit oder Trug?

Und lebt er nur in Phantasie?

 

Da - plötzlich spürt er ihre Hand.

Von ihrem Mund den kühlen Hauch.

Ist Wirklichkeit ersehntes Land

und die Gestalt, dort, auch?

 

Das Tor fliegt auf.

Der Mann eilt fort -

dem Winken, Locken hinterher.

Niemand sah ihn je wieder dort.

Und noch mehr Nebel kam vom Meer.

 

Kein Mucks - schon Tage - wochenlang,

als Nachtschwarz Land und Mensch verschlang.

 

 

(c) Ralph Bruse

Die Verabredung

 

 

Als Margitta die Türe aufschließen will, hört sie schon das Läuten des Telefons. 

Hastig zieht sie ihre Jacke aus, stellt die Tasche zur Seite und nimmt den Hörer 

aus der Station.

 

Am anderen Ende meldet sich eine fremde Männerstimme:

„Ist da Stein? Margitta Stein? Die Margitta, die in der Goethe-Schule, auf dem 

Pausenhof, immer alle Blicke der Jungs auf sich zog? Mädchen - und Jungen-

klassen noch getrennt, damals. Unser Lehrer hieß...Na, wie hieß der nochmal...

 

(kurze Pause)

 

„Ja, Stein, das ist mein Mädchenname. Die Saarbrücker Schule in der gleich

namigen Straße stimmt auch. Der Lehrer eurer Jungenklasse hieß übrigens 

Ammon.“

 

„Ach ja...Jetzt fällt endlich der Groschen!...Übrigens: ich bin der Hermann....

Hermann Maas.‘‘

 

„Ach, der Hermann, der blonde, hübsche mit der Haartolle, die er sich immer 

wieder zurecht gekämmt hat? Du hast mir doch damals das Zettelchen geschrie-

ben: das mit dem wogenden Busen und ob ich mit dir gehen will?“

 

„Stimmt - der Blondkopf, der die Augen immer weit aufriss, sobald du in der 

Nähe warst. Und sich dann endlich irgendwann auch mal traute, dir zu schrei-

ben.‘‘

 

„Hatten deine Eltern nicht einen Friseursalon in der Blumenstraße?“

 

„Ja. Ist aber lange her. Die Geschäfte gingen zuletzt schlecht. Manche Kunden 

beschwerten sich schon, wenn zuviel an den Haaren geschnippelt wurde  - und 

andere fanden ihre Frisur später völlig vermurkst - gingen einfach, ohne zu zah-

len und so erzählte man sich bald gehässig, daß der Friseur, drei Straßen weiter, 

sehr zu empfehlen wäre - und daß der meiner Eltern Fusch fabriziert... Alles 

üble Verleumdung. Aber versuch mal, ein Gerücht wieder aus der Welt zu schaf-

fen.

Vorbei und fast vergessen...

Wir Jungs hingen jedenfalls oft draußen, im Sportheim ab. Nachmittags auf dem 

Bolzplatz Fußball kicken, abends dann drinnen fröhliches Zusammensein.''

 

„ Ach ja, das Sportheim mit der Jukebox. Sonntags rannte ich auch immer dort-

hin, um Elvis zu hören. „Loving you und Hounddog“. Zu mehr reichte es nicht. 

Erstens, weil ich nicht so viel Münzen hatte und dann war da einer, der immer 

wieder „Only you“ von den Platters spielen ließ.“ 

 

„Kommt mir sehr bekannt vor..Einmal darfst du raten, wer den Song in einer 

Tour auflegte und für dich spielte.''

 

Was, du warst das? Für mich? Wusste ich gar nicht. Aha. Na ja, jedenfalls 

musste ich mich immer beeilen, dass ich rechtzeitig mit Ende des Gottes-

dienstes heimkam. Mein Vater war so streng, er selbst ging nie in die Kir-

che, obwohl er katholisch war und ich, die Evangelische, sollte beten. 

Vorher hab ich mich immer noch informiert, welches Sonntags-Thema an 

der Reihe war, damit ich von der Predigt berichten konnte.“

 

„Stimmt, du warst immer ziemlich schnell da, im Sportheim, und genauso

schnell wieder weg. Wunderte mich schon etwas. Dachte mir aber auch, daß

du Zuhause ziemlichen Ärger kriegst, wenn du nicht um die und die Zeit zu-

rück bist. Die wenigen Minuten, die du im Sportheim weiltest, waren jeden-

falls - außer der Schulzeit - immer die besten meines Tages. Und wohl nicht

nur meine besten...Der Gerd Schmid...''

 

„Der Gerd gefiel mir damals sehr. Sah aus wie Elvis und hatte immer so´ne 

rote Jacke mit einem Löwenkopf hinten drauf an. Oder die schwarze Leder-

jacke. Anders hab ich ihn nie gesehen. Alle nannten ihn Ted, weil Ted Herold

der deutsche Elvis war und ihm auch vom Typ her ähnelte.

Gerd und zwei andere Jungs standen immer mit ihren Mopeds vor meinem 

Haus, hatten ihr Kofferradio dabei und spielten „Moonlight“ von Ted.“

 

„Da standen nicht nur Gerd und Roland vor deiner Tür. Auch der Hermann, 

der irgendwie immer hinter den beiden anderen stand.''

 

„Du warst dabei? Ach nee!''

 

„Sag mal, wie kommst du denn zu meiner Telefonnummer, Hermann? “

 

„War nicht schwer, die herauszufinden. Bin zu unserer alten Schule und hab

ein paar der früheren Lehrer mit Fragen gelöchert. Die haben sich alle etwas

geziert - schon wegen Datenschutz - aber Ammon, der Geschichtslehrer ist

dort immer noch an Bord - und der hat sich schließlich breitschlagen lassen,

weil er dich noch manchmal in der Stadt trifft, wie er ausplauderte.‘‘

 

„Was machst du denn so in deiner Freizeit? Hast du Familie?“

 

„Keine Familie. Mache dies und das und von allem etwas. Wandere, fahre

Rad, lese viel, koche gern. Hab kürzlich sogar einen Kochkurs besucht - als

einziger Mann unter zwanzig Frauen! Seitdem sind natürlich auch Kochsen-

dungen im TV freiwillige Pflicht.

 

„Stimmt, auch durch die vielen Kochsendungen haben das etliche Männer 

zu ihrem Hobby gemacht. Schade, ich hatte nie das Glück, mal gut bekocht 

zu werden.“

 

„Das kann sich ja ändern. (lacht) Nur: Musik sollte schon im Hintergrund 

mitlaufen. Gutes Essen, guter Wein, gute Musik. Darf eigentlich von allem 

sein, was den späteren Genuss steigert.''

 

„Musik mag ich auch in allen Richtungen, soweit sie mich „anfässt“. Klassik,

Pop, Rock ( sanft ), Jazz – schöne Romantik – Songs.“

 

„Und du? In festen Händen? Kinder? Familie?...Entschuldige meine direkte

Fragerei.''

 

„Ist schon okay. Ich lebe immer noch in dieser Stadt. Bin nie ganz weggezo-

gen. Wollte ich auch nicht. Wohne allein. Lebe gern allein.“

 

„Können wir uns denn mal treffen? Ganz unverbindlich. Ohne doppelten Bo-

den, Margitta.''

 

„ Ja, können wir. Vielleicht auf ´nen Cappuccino.“

 

„Ich hätte da eine Idee: würde dich gern zum ´Don Giovanni´ einladen. Hast

du Lust?“

 

„Schöne Idee, Hermann. Das wollte ich schon längst mal machen.“

 

„Das wird dir gefallen. Edle Atmosphäre. Wir werden uns dort sicher wohl-

fühlen...Könnte es bis halb sieben schaffen, zu unserem Treff. Ist das in Ord-

nung?

 

„Das ist okay, Freitag, 18 Uhr 30 vorm Eingang.“

 

„Wie erkenne ich dich? Bist du noch die mit den paar mehr Pfunden auf den

Rippen? Ich fand das immer sehr anziehend. Die meisten Mädchen in deiner

Klasse waren ja wandelnde Weberknechtinnen. (lacht angestrengt) 

Pardon. War nicht so gemeint, wie gesagt. Kann ja niemand was für sein Aus-

sehn.''

 

„Richtig. Sind ja mittlerweile auch ein paar Tage vergangen seit unserer 

Schulzeit. Also: ich bin dunkelhaarig, normale Figur, 165 groß, bzw. klein 

und ein bisschen kompliziert. Manchmal.“

 

„Das Komplizierte kann ich ja nicht sehn. Merke ich dann sicher, sobald wir

zusammen sitzen (lacht). Vielleicht findest du meine Nase ja auch inzwi-

schen zu schief, die spärlichen Haare zu dünn und den Bauch zu dick. Wer-

den wir schnell merken. Vorfreude kostet jedenfalls nichts...Bis dann. Und

auf ein gelingendes Wiedersehn, Margitta!''

 

 

2. 

Freitag.

 

Margitta steht vor ihrem Schrank und probiert ein Kleid nach dem ande-

ren. Das dunkelgrüne ist zu festlich, das rote zu sexy, das blaue lenkt zu 

sehr auf die Pölsterchen und die Auberginenfarbe lässt sie zu blass er-

scheinen. Den Hosenanzug? Nee, zu bussiness like. Also, das dunkel-

blaue Kleid passt auf jeden Fall. Die Augenringe sind heute besonders 

auffällig. Zu wenig Schlaf letzte Nacht. Die Haare liegen am Kopf wie Fe-

dern. Mist! Sie nimmt Haarspray und stärkt damit den Ansatz. Na ja, so

geht´s. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel. Ganz passabel, jetzt.

 

In der Tiefgarage des Opernhauses zieht sie sich nochmal die Lippen 

nach und schlendert gemächlich dem Eingang zu. 

18 Uhr 20. In großen Lettern ´Don Giovanni´. Sie betrachtet die Büh-

nenbilder und liest die Biographien der Sänger. Immer mehr Menschen 

drängen sich durchs Foyer. Freundliche Blicke streifen sie, aber von 

Hermann ist nichts zu sehen.

Zum dritten Mal läutet es schon – höchste Zeit, die Plätze einzunehmen.

Kein Hermann weit und breit.

20 Minuten flaniert sie noch auf und ab, immer wieder zur Uhr blickend. 

Lässt er sie vielleicht bewusst warten als späte Rache für damals, als sie 

nicht mit ihm „gehen“ wollte?

Verärgert, aber auch etwas enttäuscht fährt sie nach Hause.

 

Das Telefon blinkt rot. Es interessiert sie nicht, wer in ihrer Abwesenheit 

angerufen hat. Sie braucht jetzt Seelennahrung und heiße Schokolade zur 

Beruhigung.

Ununterbrochen klingelt das Telefon. Der Anrufbeantworter ist ausge-

schaltet. Irgendwann nach Mitternacht nimmt sie dann doch den Hörer 

ab.

 

„Sag mal, Margitta, was ist denn los? 2 Stunden stand ich vorm ´Don Gi-

ovanni´, dann bin ich allein ins Lokal und hab schon aus Frust die halbe 

Speisekarte rauf und runter gefuttert. Schade, ich hatte mich doch so auf 

unser Wiedersehn gefreut!“

 

''Ja, schade. Nächster Versuch...Vielleicht.'' (sagt sie zu sich selbst)

 

 

(c) Ralph Bruse

Der Ring

(Eine Geschichte nach - zum Teil - tatsächlichen Begebenheiten)

 

 

Die Radiomusik hob sie in Wolken aus Erinnerungen...

 

Sie war die Schönste in der Kirche. In ihrem bodenlangen Brautkleid

hing glitzernder Goldstaub und in ihren Augen schimmerten Tränen

puren Glücks. Börge streichelte ihren Arm, während sie zum Traual-

tar schritten. Die Orgelspielerin im Hintergrund lächelte aufmunternd

herüber. Der Pfarrer lächelte - alle lächelten. Ihr war, als würde die 

Sonne, draußen, geradewegs hereinfluten und alle Festkleider der

Hochzeitsgäste in unzählige, zerfließende und glitzernde Bäche ver-

wandeln.

Auch während der viertelstündigen Ansprache des Pfarrers blieb sein

Lächeln erhalten. Börge streifte ihr den Ring über - ein Erbstück ihrer

Mutter: silber, mit blauem Stein. Er küsste sie leidenschaftlicher, als 

erlaubt und dann gingen sie - nein, sie schwebten durch einen Korso 

von lachenden Leuten, zum Ausgang - in strahlendes Tageslicht.

 

Die sanfte Musk bricht ab.

Svenja macht einen schwachen Versuch, noch einmal in ihre Erinne-

rungen vorzudringen.

Es misslingt. Die Wirklichkeit ist stärker.

Sie liegt verkrümmt und wimmernd auf dem Küchenboden. Ihr rech-

tes Ohr ist taub, als hätte genau dort eine Granate eingeschlagen. Sie 

wälzt sich herum. Ein Stuhl...Der Küchenstuhl...

Mit letzter Kraft zieht sie sich daran hoch. Der betäubte Leib scheint 

nicht mehr ihr zu gehören. In Zeitlupe kriecht sie auf den Stuhl und rich-

tet sich auf. Wie eine ferngesteuerte Puppe, deren Batterien auslaufen, 

greift sie nach dem blutverschmierten Messer, vor sich, auf dem Tisch. 

Schneidet sich damit tief in die Hand.

Sie tastet nach der halbgeschälten Kartoffel auf der Spüle. Die Knolle 

entgleitet ihr und fällt ins Topfwasser. Das Wasser färbt sich leicht rötlich. 

Bis eben war es klar und rein. Sie sieht zu, wie sich die rote Schlange aus 

Blut mehr und mehr im Kochkessel breit macht.

Die verletzte Hand tut ihr nicht weh. Svenja wundert sich auch nicht wei-

ter darüber. Sie hat schon einiges mehr ausgehalten.

Das blutbefleckte Messer fällt mit einem Blop ins Wasser. Die blutende

Hand mit dem Trauring am Mittelfinger taucht ihm nach.

Sie zieht das Messer wieder hervor und ritzt die Spitze nun dicht neben 

der Pulsader ein. Nur leicht und nicht tief. Sie spürt weder Angst, noch 

irgendein unbestimmtes Gefühl von Schuld. Nichts fühlt sie. Garnichts.

In ihrem Innern kippt ein Zögern nach dem anderen um. Erloschene 

Seelen spüren keinen Schmerz mehr. Es ist nur noch kalt dort drinnen.

 

Sie hebt die tropfende Messerklinge an die Augen. Dann erkennt sie da-

rin ihr Gesicht. Es ist dreißig Jahre alt, dieses Gesicht, und es hat schon 

dunkle Tränensäcke. Der Mund ist entstellt und verkniffen. Sie öffnet ihn

etwas. Vorne fehlen vier Zähne. Ausgeschlagen.

lhr Lächeln wirkt für Sekunden wie das einer bösen Hexe. Aber sie ist 

nicht böse - nur kaputt. Ihr strähniges Haar klebt wie an den Strand gewor-

fener Schlick am kahl gewordenen Kopf. Voll, lang und wellig fiel es ihr 

einst bis über die Schultern, das Haar... Jetzt ist es dünn, klebrig und nur 

noch an wenigen Stellen halbwegs üppig gewachsen. Ausgerissen...

Darunter, die Augen: sie starren sie wie schwarze, leere Höhlen aus der 

Messerklinge an. Über den Glanz, der mal in ihnen lag, machte sich seit

langem wuchernde Traurigkeit her. Die Nase ist geschwollen, die blei-

chen Wangen auch, und das Kinn: schief, gebrochen, zerschlagen.

Am liebsten würde sie das blitzende Messer ins Radio pfeffern, um das 

schmalzige Gedudel abzuwürgen.

Aber es dudelt immer weiter.

Svenja war immer die Besonnene, die Gelassene, die mit fast störrischer 

Ruhe jede Anfeindung über sich ergehen ließ. Es lohnte sich nicht mehr, 

jetzt diese Wesensart zu ändern. Sie hat gelernt, sich zu fügen - sich zu 

beugen. Das Leben nach jener traumhaften Hochzeit vor fünf Jahren: er-

bärmlich. Sie fügte sich trotzdem einer Gewalt, die von da an in Strömen 

auf sie niederprasselte. Und was hat sie getan, um dieser rohen Gewalt zu 

entkommen? 

Nichts tat sie. Garnichts. Bis heute...

 

Sie legt das Messer auf den Tisch zurück. Blickt hilflos umher. In der Kü-

che ist es still. Grauenhaft still.

Im Radio gibt es Nachrichten. Irgendwo ist wieder mal Krieg. Ein unbe-

quemer Politiker ist gestorben, und ein beliebter Schauspieler auch. Der 

Papst verteufelt die Pille. Die Arbeitslosenzahl hat einen Rekordstand.

Das Wetter wird besser, weil das Hoch Elfriede die Herrschaft von Tief

Paul übernimmt....Alles ist weit, weit weg.

 

Wo bleibt die Sonne...?

Sie hebt das verletzte Kinn an, sieht zum Fenster raus. Das Licht blendet 

sie. Die ersten Sonnenstrahlen kriechen an ihr hoch. Der Stuhl knarrt. 

Sie tritt näher ans Fenster.

Ein Mann kommt die Straße entlang. Er steuert direkt auf das Haus zu. 

Ihm folgen zwei Männer in Uniform. Polizisten.

 

Es klingelt Sturm.

Svenja schlurft langsam, wie eine Greisin, zur Wohnungstür.

> Was wollen Sie von mir?, < hört sie die eigene, brüchige Stimme über

die Sprechanlage. > Lassen Sie mich allein. <

Eine Pause tritt ein.

> Öffnen Sie, Frau Freese!, < antwortet die andere Stimme von unten.

Svenja drückt den Summer.

Schritte poltern die Treppen rauf. Dritter Stock. Es klingelt wieder - ein-

mal, zweimal.

Svenja öffnet nicht. Es bleibt still in ihrer Wohnung.

Die Männerstimme wirkt nervös - wird laut.

> Öffnen Sie! Niemand will ihnen Schlechtes. Wir sind von der Polizei. <

Und dann ruft die Stimme: > Wir haben nur ein paar Fragen. Jemand aus

der Nachbarschaft rief nach uns. Das kann ja auch ein Missverständnis

sein...<

Svenja presst ihr Ohr von innen an die Wohnungstür.

> Warum...? Was wollen Sie denn mit mir besprechen? <

Sie hält die Luft an, weil sie die Antwort schon kennt.

Der Mann auf der anderen Türseite stöhnt nunmehr genervt. Dann aber 

siegt sein unerschütterlícher lnstinkt für knifflige Situationen, dieser Art.

> Ein Nachbar behauptet, Hilfeschreie aus ihrer Wohnung gehört zu ha-

ben. Die Schreie eines Mannes und die einer Frau...Irren ist ja mensch-

lich...Wir können den Sachverhalt in Ruhe klären, aber dazu sollten Sie 

uns schon auch Gelegenheit geben, und öffnen. <

Wieder eine Pause.

Dann geht die Tür auf.

Svenja steht im Nachthemd da, das ihren geschundenen Körper nur spär-

lich bedeckt.

Der Mann atmet tief durch. Nackter Schrecken steht ihm ins Gesicht ge-

schrieben. Svenja taumelt vor und zurück. Dann stürzt sie erschöpft zu

Boden, ehe der Mann seine helfenden Arme ausstrecken kann.

Der bullige Polizist beugt sich hin -  packt zu. Er hebt sie behutsam auf

und trägt sie ins Schlafzimmer, nach nebenan, um sie dort ebenso behut-

sam auf das Bett zu legen.

Er sieht lange auf die bewusstlose Frau herunter. Ihr Körper ist von un-

zähligen Brandnarben und von blaugrünen Flecken übersät. Außerdem

blutet ihre eine Hand stark - gefährlich stark, seiner Ansicht nach.

 

Holm, der Riesenkerl von einem Polizisten, hat schon viel Grässliches in 

seiner Laufbahn gesehn, aber das Bild der geschundenen Frau, da auf dem

Bett, wird ihn nie wieder loslassen.

Tränen schießen ihm plötzlich in die Augen. Lange schaut er die Bewusst-

lose an - bis der Tränenschleier jeden Blick versperrt. Er wischt sich mit 

dem Handrücken die Nässe vom Gesicht, geht zurück, nach nebenan.

Da liegt ein Mann im Kücheneck: reglos, erstochen. Der Anblick des Toten 

erschüttert Holm wenig, muß er sich eingestehn. Die Frau im Nebenzimmer 

´fasst ihn´ viel härter an. Sie hat sicher mehr aushalten müssen - viel mehr - 

wahrscheinlich über Jahre, als der tote Mann dort, im Eck. Der erstochene

Typ am Boden hat es offenbar auch nicht anders verdient, wenn man nur 

eins und eins zusammenzählen kann. Nein, was Besseres hat der Kerl wahr-

lich nicht verdient. Ziemlich klarer Fall von Notwehr, sinniert Holm. Nach 

Tötung mit Vorsatz sieht das hier jedenfalls nicht aus.

 

Holm ruft per Handy einen Krankenwagen - und erst Minuten später den 

schwarzen Wagen, in dem Leichen weggeschafft werden.

 

 

 

Zwei Jahre später:

Sie sehen sich gelegentlich. Svenja fühlt sich in der offenen Abteilung der 

Psychiatrie nicht unwohl. Ihr früheres Leben ist in der Erinnerung verwischt.

Sie findet sich draußen kaum noch zurecht. Also bleibt sie hier. Börge, der

Mann, der sie über Jahre schlug und quälte, ist längst begraben. Doch den 

Trauring - den Ring ihrer Mutter – trug sie noch lange. Bis zu jenem Tag, 

als Holm, der gutmütige Polizist, Svenja abholte und sie für zwei, drei Stun-

den im Auto mit rausnahm.

 

Es war eine schöne Fahrt über flaches Land, vorbei an blühenden Kastanien-

alleen, die zu Gütern und den dazugehörigen Herrenhäusern führten.

Im Autoradio versprach der Wetterbericht ein Hoch für die kommenden Tage.

Svenja hielt den Atem an. Wann hatte sie zuletzt dieses Indigoblau des Him-

mels wahrgenommen? Sie bat Holm anzuhalten, um ein paar Schritte zu ge-

hen.

Links und rechts stand der Raps in sattem Gelb, von der Frühlingssonne 

warm bestrahlt. Er nahm ihre Hand, drückte sie sanft und spürte, wie sie sie 

ruckartig zurückzog. Berührungen ließen sie erschauern, seit ihr Mann brutal 

alle Wärme aus ihrem Körper geschlagen hat. Holm gab ihre Hand frei, ver-

suchte, sie am Arm zu streicheln, doch auch hier erschrak sie. Sie liefen nah

beieinander zum nahe gelegenen See.

Dort setzten sie sich ins Gras und sinnierten vor sich hin; beobachteten, wie 

sich die Sonne im See golden spiegelte. Holm wandte sich ihr zu und erblickte 

in ihren Augen einen bernsteinfarbenen Glanz, wie er ihn noch nie zuvor gese-

hen hatte.

Svenja fasste zaghaft nach seiner Hand und bat ihn um Verzeihung: „Ich weiß, 

ich bin hart geworden durch diese Ehe. Als du mich damals am Sterben gehin-

dert hast, habe ich dich dafür gehasst. Jetzt bin ich froh, dass ich mit dir diesen 

wunderschönen Augenblick erleben darf. Danke....Holm ist nicht dein richtiger

Vorname, oder?“ 

„Ole. Holmsund kommt hintendran. So nennen mich die Leute im Revier...ein-

fach Holm.“ 

Er legte langsam den Arm um ihre Schulter und streichelte sie sanft. Er mochte 

sie. Eigentlich damals schon. Hatte was mit seiner Vergangenheit zu tun. Sehr 

früh verließ er sein Elternhaus, um der täglichen Gewalt zu entfliehen. Er lebte 

monatelang auf der Strasse, jobbte gelegentlich, um sich über Wasser zu halten. 

Wenn´s nicht reichte, klaute er sich das, was ihm fehlte. Er war clever genug, 

sich nicht von der Polente erwischen zu lassen. Mit seiner ersten Liebe fand er 

in´s Leben zurück und auch zu seiner Berufung. Polizist wollte er werden. Ein 

ordentliches Leben führen. Hat er nie bereut. Manchmal hat er ein Auge zuge-

drückt und einigen ´Gestrauchelten´ den richtigen Weg gewiesen. Ein ´harter

Bulle´ war er gewiss nicht.

 

Svenja entkleidete sich nach und nach, um ein Bad im kühlen See zu nehmen. 

Den Ring ihrer Mutter, der ihr ein kostbares Andenken war, legte sie zu ihren 

Utensilien. Holm sah ihr wie erstarrt zu. Die Narben am Körper waren verheilt -

die in der Seele sicher nicht. Als sie sich entfernte, fiel ihm auf, wie leicht ge-

bückt ihre Haltung war. Fast ängstlich.

“Svenja, vielleicht solltest du den Ring, der dich immer wieder an deine un-

glückliche Vergangenheit erinnern wird, besser in eine Schatulle schließen. 

So bewahrst du das Andenken, ohne die Erinnerungen mit in die Gegenwart 

zu nehmen. Ist nur so ein Gedanke...“ 

 

Lachend winkte sie ihn zu sich heran. Sie schwammen gemütlich im glitzern-

den Wasser.

Er sah sie plötzlich mit anderen Augen: Eine Frau, die sich im Wandel befand. 

Und noch viel mehr: Eine schöne, begehrenswerte Frau. 

Ihre nassen Körper trockneten schnell in der warmen Sonne. Als sie sich anklei-

den wollte, zog er sie an sich und küsste sie zärtlich. Scheu erwiderte sie seinen 

Kuss. Plötzlich durchströmte sie ein Glücksgefühl, das ihr seit langem fremd 

war. „Ole, ich bin dir unendlich dankbar“. 

 

Während der Heimfahrt hatte sie das Gefühl, sich in einer schwankenden Schau-

kel zu bewegen. Ohne festen Boden. Festen Boden – hatte sie den überhaupt? 

 

Da - plötzlich die scharfe Linkskurve...Ole - von ihrem stillen Lächeln kurz ab-

gelenkt - übersteuerte und der Wagen flog dicht an einem knorrigen Alleebaum 

vorbei, die kleine Böschung hinab und blieb seitwärts, mit zischenden Rädern 

und kreischendem Motor in einem Rübenacker liegen. Scherben splitterten. 

Keine Schreie. Nur jäh eintretende Stille und Dunkelheit überall. 

Dann endlich wieder Licht..Und eine schwache Stimme: > Svenja? <

> Ole?...Gottseidank! < 

 

Erst viel später nahm sie den stechenden Schmerz in ihrer Hand bewusst wahr. 

Der Ring ihrer Mutter war in der Mitte auseinandergesprungen und grub die

spitzen Silberkanten in ihren Finger. Beunruhigt sah sie Ole an. Zitternd nahm

sie das auseinander gebrochene Schmuckstück und packte es in ihre Jackenta-

sche. Ole hatte ganz recht: sie wird ihn nicht mehr tragen.

 

 

2.

Sie sitzt mit bandagiertem Bein auf der Terrasse der Klinik und wartet auf Ole. 

Heute wird er sie besuchen: mit bandagiertem Arm und Kopfverband. Jedes-

mal bringt er ihr Blumen mit. Er weiß, wie sehr sie sich darüber freut. Manch-

mal verwechselt sie ihn noch mit jemand anderem, der schon lange tot ist. Wa-

rum, weiß sie nicht. Er ist doch ihr Mann. Der andere Mann? Wenn sie manch-

mal, in einsamen Stunden an ihn denkt, sieht sie einen glitzernden See - ihren

See - und den zerbrochenen Ring. Dann spürt sie Schläge und blutende Küsse. 

Sie steigt dann nackt ins Wasser und schwimmt der Sonne entgegen.

 

 

Erzählung: (c) Ralph Bruse

Es fährt ein Schiff

 

 

Noch eine halbe Stunde, dann treffe ich ihn. Mein Herz pocht so laut, dass man es

bis dort zum Yachthafen hören kann. Hier ist es menschenleer. Ich schlendere wei-

ter, an wuchtigen Felsteinen vorbei, zum Strand. Zwei einsame Strandkörbe stehen

da, wie vergessen. Etwa für uns?

 

Jenny zieht die Schuhe aus und spürt den lauwarmen, feuchten Sand unter ihren Fußsohlen. Eine leichte Brise streicht ihr durch´s Haar und die Wolkenbilder lassen

sie in Fantasiewelten tauchen...Eine Kutsche, dahinter ein behäbiger Bär und vorne

sitzt ein kleiner Junge mit Lockenschopf. Oder ein Mädchen vielleicht?

 

Am Strandkorb angelangt, stellt sie die Badetasche ab und die zwei Fischbrötchen,

die sie vorne, in der Imbissbude geholt hat. Zehn Minuten noch. Von ihm ist nichts

zu sehen. 

Wird er kommen? Zum starken Herzklopfen schleicht sich noch sowas wie Lampen-

fieber ein.

Was ist das? Da singt doch jemand, oder? „Seemann, lass das träumen“ Lolita´s Stim-

me. Die 60er Jahre - Erfolgssängerin. Sitzt sie vielleicht dort oben in den Wolken und

will uns zu unserem Glück ermuntern? 

Die Stimme nähert sich. Sie hört Schritte im Sand. Dort, ein großer, schlanker Mann

mit einem Kofferradio. Er!

Sven kommt lächelnd auf sie zu – etwas befangen. Jenny eilt ihm entgegen und um-

armt ihn herzlich. Als sie sein leichtes Zittern bemerkt, hakt sie sich bei ihm unter 

und lacht alle Unsicherheiten in den Wind. Heiter zieht sie ihn hin, zum Strandkorb.

Dort holt er aus seinem Rucksack die Thermoskanne mit schwarzem Tee. 

„Magst du ein Fischbrötchen mitessen?“ Jenny reicht es ihm hin. 

„ Oh danke, sehr gerne.“

Sie kauen an ihren Semmeln und schauen sich verstohlen von der Seite an.

 

Es begann vor zwei Jahren:

Jenny wollte ihren kranken Onkel anrufen und jedesmal, wenn sie dessen Nummer wählte, meldete sich ein Herr Bergmann. Zweimal entschuldigte sie sich, doch beim

dritten Versuch gab sie es auf. Wahrscheinlich eine Störung beim Anbieter. Kurz da-

rauf läutete das Telefon und am anderen Ende lachte Herr Bergmann.

„ Ihre Stimme klingt so sympathisch, die würde ich gern öfter hören.“ 

Sie plauderten fast eine Stunde munter drauflos und wurden sich einig, dass sie diese

Bekanntschaft fortsetzen wollten. Daraus entwickelte sich eine freundschaftliche Ver-

trautheit und nach und nach schlichen sich tiefe Gefühle ein. Liebe vielleicht? Sie

kannten sich ja nur vom Telefon.

 

Sven reicht ihr Tee und sie blicken gedankenverloren auf´s Meer. Stille. Irgendwo

kreischen Möwen und von weit her klingt fröhliches Kinderlachen. Sie lehnt sich an

seine Schulter. 

“ Sven, ich hatte Angst, diesen Zauberbann zwischen uns zu zerstören.“ 

„ Liebes, du denkst zuviel. Diese Angst hatte ich nie“. Er zieht Jenny zu sich, küsst sie

zart auf die Stirn und streicht ihr dabei über´s zerzauste Haar. Sie fährt mit der Zun-

ge über ihre salzigen Lippen und sucht seinen Mund zu einem Kuss. Ein starkes Gefühl

der Wärme durchströmt ihren Körper. Begehren auch. Nach einer innigen Umarmung sieht sie ihm tief in die Augen. Darin spiegelt sich die See – seine große Sehnsucht.

Sven richtet sich auf: „ Komm, wir laufen zum Leuchtturm und kühlen uns dann spä-

ter im Wasser ab.“ Eng umschlungen, die Schuhe in der Hand, bummeln sie weiter und

bemerken nicht, daß es bereits dämmert.

 

Am Leuchtturm angekommen, küssen sie sich wieder. Setzen sich in den spröden Sand,

der noch warm vom Tag ist. Sie schweigen lange. Die Sonne sinkt am Horizont nieder,

ein Schiff kreuzt den feuerroten Lichtball. Stimmen fliegen ihnen zu. Leute winken ih-

nen aus der Ferne. Sie haben nur Blicke füreinander. Umarmen sich fest. Immer fester.

Es ist, als wollten sie in sich hinein - tief in ihren Leibern versinken, um sich auf immer

dort einzuschließen.

Der Feuerball der Sonne sinkt nur halb - nicht ganz hinab. Mittsommer. Die Nächte

sind lau und schwaches Licht flirrt silbrig über Wellen hin. Möwen kappen die leeren Schnäbel, schreien nicht und ziehen landwärts, um im nahen Hafen auf Booten und an trocknenden Fischernetzen nach letzten Nahrungsresten zu suchen.

Sven lockert die kräftge Umarmung etwas, greift seitwärts, in den Rucksack, holt sei-

ne Lieblings-Kassette hervor, schiebt sie in den Schlitz am Kofferradio - drückt auf

Start. Wieder erklingt Lolita mit ihrem ´´Seemann, deine Heimat ist das Meer´´. Er

holt tief Luft, sagt schließlich: > Ich hab auf einem dänischen Frachter als Matrose an-geheuert, Liebes. Warum, das weiß wohl nicht mal der ´da oben´ genau. <

Jenny schaut ihn etwas erschrocken an. Doch sie versteht und schmiegt sich wieder

an ihn. Sie zittert leicht.

Sven zittert ebenso. Er schaut ihr tief in die Augen und dann lange auf´s stille Meer

hinaus.

Jenny sinkt hintenüber, zieht ihn mit sich. Jetzt sind sie hier, am Strand. Diese Nacht

gehört ihnen allein - nicht dem säuselnden Wind, nicht dem Meer, den Sternen, darü-

ber, nicht den fortfahrenden Schiffen, den Seevögeln, den raschelnden Dünen, oder endloser Weite. Es ist ihre Sehnsucht, die sie allein für sich stillen: mit fieberhaft su-

chenden Händen und Mündern, mit hitzigen Leibern, brennender Leidenschaft und kochender Lust. 

Sie lieben sich die ganze Nacht lang - begehren, verzehren einander ohne Unterlass,

weinen Tränen der Freude und solche aus Trauer, schreien ihr ungestilltes Begehren heraus und streicheln einander im nächsten Moment still, zutiefst zärtlich und ver-

traut. Bis unerbittlich der andere Morgen kommt...

 

 

2.

Ich warte hier auf ihn: im Rostocker Überseehafen.

Wird er kommen? ...Und dann wieder gehen?

Ich schaue rauf, zum Himmel. Beinah dasselbe Wolkenbild wie noch vor wenigen Ta-

gen: die Kutsche, der behäbige Bär...Nur das Kind in der Kutsche fehlt. Dafür zieht 

eine Schwanenschar an weißen Streifen des Himmels hin.

 

Er kommt: den großen Seemannssack geschultert. Lächelt. Aber sein Lächeln ist 

schwach und schon von Weitem sehe ich in seinen Augen feuchte Schimmer.

Plötzlich stoppt er - keine zehn Meter entfernt, wuchtet den riesigen Sack zu Boden,

blickt zuerst mich an, dann den monströsen Frachter am Kai. 

Seine Zweifel wachsen an - ich spüre es. Er setzt sich hin - hockt sich einfach neben 

den prallen Sack auf harten Beton. Schlägt die Hände zitternd vor´s Gesicht. Ich eile 

hinzu, setze mich zu ihm. Halte seine zärtlichen, großen Pranken fest, frage mit be-

bender Stimme: > Willst du wirklich fort? <

Er kann nicht sprechen. Sucht nur nach Antworten.

 

 

Etwa eine Stunde später legt der Frachter ab, verlässt den Hafen fast lautlos.

Sven winkt ihm sehnsüchtig nach. Lässt dann die Arme fallen - von Land, vom Kai

aus.

Jenny schaut, einer plötzlichen Eingebung folgend, abermals hinauf, zum Wolken-

gebilde, dort oben. Und erkennt einen kleinen Jungen mit Lockenkopf in der Him-

mels-Kutsche.

 

Sie gehen davon.

Er schaut immer wieder zurück, zum Hafen.

 

 

(c) Ralph Bruse

Tanja


Ein mieser Tag. Und doch nicht so ganz...Tanja, mit zwei Einkaufstüten
und prallvoller Umhängetasche beladen, setzt schnaufend die zwei Tü-
ten ab, schließt die Haustür auf - als ihr jemand rücklings die Handtasche
von der Schulter reißt und wegrennt. Oder besser: wegrennen will.
Tanja winkelt den Arm reflexartig an, packt mit der Hand den Lederrie-
men, hält ihn tapfer fest...Wildes Gezerre...Der Räuber zieht nach hinten,
Tanja einhändig nach vorn, Richtung halboffene Tür. Gleichzeitig prallt

ihre andere, freie Hand an acht bis zehn Hausblock-Klingeln.
Alarm!, ruft sie lautstark. Nicht Hilfe, nicht helft mir doch - nein, sie ruft:
Alarm!!!
Keine Minute später tauchen drei, vier Köpfe der Nachbarn, oben, an
den Fenstern auf. Dann schreit auch schon jemand: Dieb! Ein Dieb! Der
will die Tasche der Grabow!
Schritte im Hausflur. Laufschritte. Keine weitere Minute danach halten
zwei Männer, die Tanja nur flüchtig kennt, den Räuber sicher im Wür-
gegriff. Einer zückt sein Handy, wählt 110, will gerade stolz verkünden,
daß ein Räuber auf frischer Untat geschnappt wurde, als Tanja sein Han-
dy-Display abrupt mit der Hand zudeckt.
> Lassen Sie das!, < sagt sie forsch.
Die zwei Männer starren sie an, als wär sie plemplem, oder vom Schock
gefrostet und denkunfähig - oder beides.
Sie aber wankt zwei, drei Schritte auf den Dieb zu, der hörbar im
Schwitzkasten des einen Hühnen nach Luft schnappt, zieht ihm die oliv-
grüne Kapuze etwas zurück.
Der Dieb ist eine Diebin. Jung, dünn, leichenblass. Höchstens siebzehn,
achtzehn.
Deshalb gewann sie also das Tauziehen um die Tasche. Die Räuberin ist
schlichtweg nicht stark genug - klug oder abgebrüht genug offenbar auch
nicht.
Tanja - noch leicht, aber nicht übermäßig erschrocken - kann irgendwie
nicht anders: sie muß unwillkürlich lächeln.
> Ich nehm´ sie mit rauf. Bin ja nicht mehr so flott und kann ´ne Haus-
hilfe immer gut brauchen...Schaun Sie mal nach, ob das dreiste Kindchen
noch irgendwas in den Taschen hat, das mehr über sie verrät, < weist sie
die zwei Männer an. Und: > Würgen sie die Kleine doch nicht so - sie wird

nämlich noch gebraucht! <
Völlig perplex schüttelt der gerade noch stolze Hühne sein Haupt, löst
aber dennoch den harten Griff etwas. Der kleinere Mann durchsucht der-
weil ziemlich grob sämtliche Taschen des Mädchens: die an der halbzer-
fetzten Jeans und die des Parkas.
Keine bedeutenden Funde - zunächst. Dreckige, zerknüllte Tempotücher,
ein paar undefinierbare, hellblaue Pillen, Bus-Schein, Bahnkarte, ein paar
Cent-Stücke.
Dann ruft Tanja plötzlich: halt! Und schaut sich die Rückseite des Bus-
Scheins genauer an. Monats-Ticket, mit vollem Namen und Anschrift
drauf.
> Mensch Mädel, wie kann man nur so dumm sein, < sagt sie beinah
schon mitleidig.
Schließlich steckt sie den Schein, samt Namen ein, geht voran, in den
Hausflur, dreht sich abrupt um.
> Na, was ist denn! Rein mit ihr und rauf. Vierter Stock, erste Tür links,
wissen Sie ja wohl noch, oder ist die Erinnerung plötzlich weg?! <
Die Erinnerung der Männer sicher nicht, aber der Glaube an den Klarver-
stand der Alten - so jedenfalls starren sie: mit weitaufgerissenen Augen
und heftig grübelnd.
Dennoch fügen sie sich, schieben die Gefangene treppauf, in den vierten
Stock. Oben angekommen, brummt der Hühne: > Sie wissen aber schon,
was sie tun, oder? <
> Weiß ich. Was denn sonst!, < kommt die patzige Antwort schnell geflo-
gen. > Guter Mann, ich bin zwar alt, aber bestimmt nicht meschugge! <
> Darüber ließe sich trefflich streiten, < widerspricht der Hühne, lässt
die Gefangene ganz los und verschwindet grummelnd, sich heftig am
Kopf kratzend, den kleineren Kumpel im Schlepptau.

Tanja schließt auf, schiebt das Mädchen resolut und doch auch sanft vor
sich her, in die kleine Hochhauswohnung. Drinnen schaut sie immer zu-
erst auf die kitschige Schwarzwald-Kuckucksuhr im Wohnzimmer, weil
sie Uhren am Handgelenk nicht ausstehn kann, demzufolge unterwegs
keine anhat, weil sie keine einzige besitzt. Schmuck hat sie auch keinen.
Den vom verstorbenen Jochen hat sie ihm mit in den Sarg gelegt. Warum,
das weiß sie bis heute nicht. Daß der Bestatter-Gehilfe das heimlich mit-
kriegte und den gesamten Schmuck vor der Verbrennung ´rettete´ - also
einkassierte - wusste sie glücklichweise auch nicht. Würde sie es wissen,
hätte sie den ganzen, überflüssigen Klimperkram vorher im Pfandhaus
auf Nimmerwiedersehn und zum Spottpreis einlagern lassen.
Bliebe noch zu erwähnen: sie mochte Jochen nicht. Doch - anfangs schon,
aber später entpuppte er sich als Weiberheld, der nichts ausließ, und Ty-

rann, der soff und sie gelegentlich auch verprügelte. Das nur nebenbei...

Es ist kurz vor neunzehn Uhr. Draußen ist es schon dunkel. Aber in ih-
rem kleinen Reich ist es gemütlich warm und hell - heller als sonst, fin-
det sie und setzt das Mädchen, das noch keinen einzigen Mucks von sich
gab, auf die Klappcouch - lächelt, so einladend es eben geht, wackelt rü-
ber in die Küche, um Kühl - und Wandschrank mit Fressalien aufzufül-
len. Als sie zurück, in die kleine Wohnstube kommt, ist das Mädchen ein-
geschlafen, liegt verkrümmt in alten Lumpen da, mit Turnschuhen, deren
Sohlen gerissen sind, den Kopf mit kurzgeschorenem Haar zur Wand ab-
gewandt, als schäme es sich - vielleicht auch nicht - jedenfalls schläft es.
Ein friedliches Bild, das die ältere Dame rührt.
Trotzdem: Strafe muß sein. Morgen packt das Mädel hier fleißig mit an!
Und wenn es nicht will, dann....Sie greift nach dem Monats-Ticket auf
der Schrankablage versteckt es in einer der Schubladen, darunter, setzt
sich beruhigt und schaut zur Couch hin. Sieht fast wie meine Jule als Ju-
gendliche aus, die letztes Jahr mit dem Wagen umkam. Beinah unheim-
lich, die Ähnlichkeit mit der verlorenen Tochter. Vielleicht hat sie die
Räuberin, dort, auf der Couch auch deshalb nicht der Polizei übergeben
wollen. Kann schon sein.

Irgendwann später trudelt Tanja gemächlich in ihr Bett, der Couch ge-
genüber, lässt das schlafende Mädchen kaum aus den Augen - dann doch -
und schläft ein. Ihr letzter Gedanke, zuvor ist, daß der Tag, heute, so
übel dann doch nicht war.

 

Der nächste Morgen:
Verschlafen blinzelt Tanja zum Fenster. Grauer Himmel und Nieselre-
gen. Ungemütlich. Alle Knochen schmerzen; das ist bei ihr immer so,
wenn das Wetter umschlägt. Na ja, und die Jüngste ist sie eben doch
nicht mehr. Langsam rappelt sie sich auf. Ein leichtes Schnarchen
lässt sie aufschrecken: Herrjeh, das Mädchen von gestern! Hatte sie
doch glatt vergessen.
Auf Zehenspitzen schleicht sie zur Couch, um sich das junge Ding mal
näher anzusehen. Wie ein Junge sieht es aus mit dem rappelkurzen
Haarschopf. Abgekaute Fingernägel und Kratzer an den Armen. Vom
Ritzen vielleicht?
Sieht aus, wie meine Jule, nur nicht so hübsch. Das könnte sie aber sein,
wenn sie ein bisschen mehr auf sich achten und sich pflegen würde.
Ob sie keine Familie hat?
„Nun, ist nicht mein Problem. Hauptsache, sie putzt mir meine Fenster
und kümmert sich um die Gardinen; denn auf die Leiter steig ich nicht
mehr so gern, seit ich letztens gestürzt bin. Sie kann froh sein, dass ich
sie nicht anzeige; da wird sie mir sicher helfen,“ nuschelt sie vor sich hin.

Nach dem Duschen und Zähneputzen schaltet sie in der Küche die Kaf-
feemaschine ein, holt Wurst, Käse, Butter aus dem Kühlschrank und
schneidet einige Scheiben vom Brot ab. Honig und Marmelade stellt sie
noch dazu und deckt den Frühstückstisch.
Wie lange ist es her, dass jemand mit ihr am Tisch saß!
Das Mädchen gähnt laut und hüpft grinsend aus dem Bett, spitzt kurz
in die Küche und eilt schnurstracks ins Bad. Lange Zeit verbringt es da.
Vielleicht hat es zuhause keines. Oder es hat gar kein Zuhause und die
Anschrift auf dem Monatsticket stimmt überhaupt nicht und ist nur er-
dacht.

Beim Frühstück erzählt sie nach ziemlich langer Schweigepause, dass
sie vor einem halben Jahr, an ihrem 18. Geburtstag, von daheim ausge-
zogen ist. Sie hat es nicht mehr ausgehalten. Die Mutter hat ihr Kind
stets spüren lassen, dass sie ungewollt aus einer Beziehung mit einem
gewalttätigem Mann war. Ein Unfall, fauchte sie, als sie mal richtig in
Rage war.
Ohne festen Wohnsitz schläft sie mal da, mal dort. Manchmal sogar auf
der Strasse. Geld besorgt sie sich dann irgendwie. So, wie gestern. Nur
ist das schiefgelaufen, diesmal. Manchmal geht sie auch mit ´nem Kerl,
da kann sie dann übernachten und kriegt ´n paar Euro extra.
„ Also echt, ich find´s ganz prima, dass Sie so nobel zu mir sind. Klasse
ist das.“
„ Ja, aber ein bisschen was dürfen Sie schon dafür tun, meine Liebe,''
entgegnet Tanja. ,,Fenster putzen, Gardinen waschen und wieder aufhän-
gen. Mir fällt das mittlerweile schwer.“ 
„ Hab ich zwar noch nie gemacht, aber so schwer kann ´s ja nicht sein.
Übrigens, ich bin Nicole. Und: Danke für´s nicht verpetzen.“

Während der ungebetene Gast die Hausarbeiten verrichtet, beobachtet
Tanja die ungelenken Bemühungen des Mädchens. Lächelnd sieht sie
ihre Tochter vor sich. Auch sie wäre unbeholfen mit dieser Aufgabe um-
gegangen. Wahrscheinlich hätten sie sich sogar gestritten.

Mit erwartungsvollem Blick fragt Nicole nach einer Weile: “Passt das
so? Ich muss nämlich weiter. Hab jemanden kennengelernt, der mit
mir nach Portugal will. Nach Lissabon – muss toll sein.“
Tanja will fragen, woher sie den Typen kennt, da fällt ihr ein Lederbeu-
tel auf, den das Mädchen um den Hals trägt. „Was ist denn da drin?,“
fragt sie.
„ Ist ´ne lange Geschichte. Aber soviel dazu: Ein Bekannter arbeitet bei
einem Bestattungsinstitut. Er nahm dem langjährigen Geliebten meiner
Mutter die Armbanduhr ab, als dieser im Sarg lag. Ich sollte sie als ein-
ziges Andenken an meinen Vater bekommen.''

Das Mädchen wendet sich ab. Will gehen. Aber Tanja stellt sich ihr in
Weg.
> So hab ich mir das nicht gedacht, Kindchen...Du kannst nicht einfach
so mir nichts dir nicht ausbüchsen. Portugal...Lissabon...Das ist doch
kein gutes Pflaster für dich. Schau dich nur um in meiner gemütlichen
Puppenstube...Hier hast du doch alles, was du brauchst...Kannst spie-
len, wie schon Jule hier spielte, früher...Komm ich zeig dir ihr Zimmer...
Ist nicht groß, doch du wirst dich wohlfühlen darin. <
Sie schiebt Nicole vor sich her, über den kurzen Flur, dann die erste Tür,
links, neben dem Eingang. Das Mädchen starrt Tanja irritiert an, ist aber
zu sehr überrumpelt und lässt geschehen, was geschieht.
Tanja öffnet die Tür zum früheren Kinderzimmer, stößt das Mädchen nun
heftiger in Richtung Raummitte - so stark, daß es zu Boden stürzt - schlägt
die Tür zu und verschließt sie von außen.
> Es wird dir gefallen, wenn du dich erst an die schöne Umgebung gewöhnt
hast, Kindchen!, < ruft sie.
Zunächst keine Antwort von drinnen. Dann halblautes Geschrei. > Was
soll das?! Lass mich hier raus! <
Tritte gegen die Tür. Und Gepolter. Offenbar fliegen die ersten Möbelstüc-
ke zu Bruch.
Schade um die schöne Einrichtung, denkt sich die alte Dame. Meine Jule
fand sie eigentlich ganz gut - konnte sich stundenlang zwischen Himmel-
bett und blauer Mond-Tapete mit an die hundert Barbie-Puppen amüsie-
ren. Das andere Mädchen, dort drinnen, ist undankbar. Wirklich sehr un-
dankbar. Aber es wird sich schon zurechtfinden und wohlfühlen, wenn es
nur erst merkt, daß es geliebt wird, wie die eigene Tochter. Das wird sie:
ganz sicher.

Endlich verstummen Poltern, Krachen und Geschrei. Tanja lächelt und
schlurft in die Küche, um Tee aufzubrühen. Schwarzen. Mit viel Kandis.
Den trank auch Jule immer gern, auf dem Schoß der Mutter sitzend.
> Ach Kindchen, < seufzt sie.

Wieder Gepolter. Nein, kräftiges Trommeln.Diesmal an der Wohnungs-
tür. Zackige Worte dringen vor, zu Tanjas Ohren.
> Öffnen Sie sofort, Frau Grabow! Es besteht der dringende Verdacht,
daß sich eine straffällig gewordene Person in ihrer Wohnung befindet! <

Tanja schaut sich um, kann aber keine Person mit der Beschreibung finden.
Sie erhebt sich, tappt zur Tür, öffnet wort - und widerstandslos.
Sofort stürmen drei Beamte in die Wohnung und durchsuchen sie.
> Öffnen sie die Tür da!, < befiehlt der eine Uniformierte nach einer Weile.
Tanja gehorcht, schließt auf.
Das Mädchen wird abgeführt. Es schweigt. Kein Geschrei mehr, wie noch

wenige Minuten vorher.
Tanja wird eindringlich ermahnt, Straftäter zukünftig sofort der Polizei zu

melden, ehe es die Nachbarn tun.
Sie nickt, wirkt eingeschüchtert. Aber als der uniformierte Stoßtrupp abrüc-

ken will, sagt sie in großer Überzeugung und Ehrlichkeit: > Die Jule war das

nicht. Solchen Unsinn würde meine Jule niemals verzapfen! <
> Jaja, wer´s glaubt, < wehrt der Truppanführer ab. > Ihre Aussage wer-

den wir später zu Protokoll nehmen. <

Genau dieselben Worte wird die alte Dame später, im Polizeipräsidium, zu

Protokoll geben. > Jule war das nicht! < Ergänzt dadurch, daß es das Mädchen

demzufolge auch nicht gewesen sein kann, weil das ja ihre Jule ist, die sowas

wie Handtaschen-Raub nie und nimmer machen würde.
Immer und immer wieder will der vernehmende Polizist ihr einreden, daß sie
sich irren müsse, aber die alte Frau bleibt standhaft bei der Behauptung, jenes
Mädchen in Gewahrsam sei zu solch schlimmer Tat überhaupt nicht fähig.

Leider finden sich später doch einige Augenzeugen aus dem Haus, die Tanjas
Aussage klar wiederlegen.
Die alte Dame darf gehen. Das in Gewahrsam genommene Mädchen muß blei-
ben. Es wird zwölf Wochen danach zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen ver-
suchten Raubes verurteilt.


Nur vier Tage nach der Verurteilung:
Die alte Dame hat Besuch in der Justizvollzugsanstalt beantragt.
Der Antrag wurde bewilligt.
Nun sitzen sie sich gegenüber - getrennt durch eine Plexiglasscheibe.
> Kriegst du hier denn auch ordentlich zu essen, Kindchen? <
> Geht so, < schmollt das Mädchen. > Ein paar Kippen könntest du bei Gele-
genheit mal vorbeibringen. <
> Aber...Du hast doch früher nie geraucht, meine Kleine!, entgegnet die alte
Dame ziemlich entrüstet.
Völlig überdreht, die Oma, denkt sich das Mädchen - aber irgendwie auch
´ne Herzensgute.
> Hier herrscht viel Langweile. Da kommste auf die wildesten Einfälle, um
die Zeit totzuschlagen. <
> Auch wieder wahr, Kindchen. Das versteh ich natürlich. Du bekommst dei-
ne Zigaretten. Aber versprich mir, daß du die schrecklichen Dinger niemals
auf Lunge rauchst, ja? <
> Ist geritzt. <
> Ge...was? <
> Versprochen. <
Die alte Dame streicht zärtlich an der Trennwand hinab. Das Mädchen lä-
chelt. Ohne Hinterhalt. Ein reines, ehrliches Lächeln. Sie nähert sich der
Scheibe bis auf wenige Zentimeter, als wolle sie sich streicheln lassen und
presst ihre Hand gegen die der alten Frau - nur getrennt von dickem Glas.
Tanja schaut auf das dünne Handgelenk des Mädchens; sagt: > Die schö-
ne Uhr da, hab ich die nicht irgendwo schon mal gesehn...? Es will mir ein-
fach nicht dämmern, wo...Ach was, bist ein gutes Mädchen, < seufzt sie
schließlich und wischt sich eine Träne aus den trüben Augen.
Eher nicht - aber vielleicht immer noch besser, als der verstorbene Jochen,
der mal dein Mann - und mein Vater war, überlegt das Mädchen - schweigt
aber eisern und verschluckt einen Halskloß.

Später wird die alte Dame zuallererst die Zigaretten kaufen und dann Zu-
hause den Küchentisch zum Abendbrot richten.
Für zwei.


(c) Ralph Bruse

Dort.....
 
Eine Brücke
zwischen Himmel und Erde
fern - dort oben
der schillernde Regenbogen
lockt mich magisch
in seine Farben
      ………….
 
und irgendwann -
over the rainbow
bin ich ihm nah
 
 
.....oben

Während du schliefst, hab ich dich ins Freie getragen, unser
altes Haus niedergebrannt, Ruheloses in den Rucksack ge-
stopft, kräftig drauf gedroschen und ihn am windschiefen
Gartenzaun vergraben. Hab den nachtschwarzen Himmel
schon mal vorab blaugrau gepinselt, dich irgendwann später
am Sandstrand gebettet, mich zu dir gelegt - und schlief dann
auch erschöpft ein.
Als die Morgensonne stieg, kam Regen auf. Nur ein kurzer
Schauer. Einige Frühaufsteher starrten uns kopfschüttelnd
an, als seien wir irgendwo ausgebrochen, wie wir so da la-
gen: eng umschlungen, klatschnass, lachend, ganz ohne Klei-
der, ohne alles. Sie ahnten nicht mal, daß sie der Wahrheit
ganz nah waren.
Wir rannten ins rauschende Wasser, mit allem was wir hat-
ten: uns.
Ein flirrend langer Regenbogen spannte sich von hier nach
dort. Wir streckten uns danach...Sprangen auf, ohne jede
Furcht, herunter zu fallen.
Nach wenigen Minuten wurde der Schweif blass und blei-
cher, floh sich weiter, hinter helle Wolken, die mit ihm in
Würde hinstarben, bis niemand nichts mehr sah - auch uns
nicht. Nur Blau und Meer.

Einen Moment lang dachte ich, wir stürzen aus allen Wol-
ken.
Ja, wie denn?...Da waren keine (mehr).


(c) Ralph Bruse

Bild: Ralph Bruse

Glück, wenn man so will


Er sitzt im Staub am Wegesrand,
den Rucksack zu den Füßen.
Die Thermoskanne in der Hand
trinkt er vom schwarzen Süssen.

Der Kaffee rinnt ihm kalt zu Magen.
Er trinkt ihn gern so mit Bedacht.
Sieht auf, zum Himmel, ohne Klagen,
wo es schon dämmert in die Nacht.


Damals:
An jenem Morgen, als er rief
und keine Antwort zu ihm drang,
fand er am Frühstückstisch den Brief,
der ihm die Luft zum Atmen nahm.

Dann schluckte er den Kummer fort;
versank auch oft in Selbstmitleid -
verließ den altvertrauten Ort
und mit ihm die Vergangenheit.


2.
Bei Mondeshelle zieht er weiter.
Die nächste Ortschaft liegt so fern.
Zufriedenheit ist sein Begleiter,
abseits von Smog und Straßenlärm.

Die Leichtigkeit, die ihn hier trägt,
enthebt ihn aller Sorgen.
Kein Überfluss, nach dem er strebt.
Er lebt heute - nicht im Morgen.

Die Sonne lockt ihn in den Tag
und Freisein füllt die Sinne:
Geruch von Kindheit, den er mag...
Ergriffen hält er inne.


Worte & Foto: (c) Ralph Bruse

Frühling am alten Haus


Diesen Weg ging sie zu jeder Jahreszeit gern. Am liebsten aber im Frühling,
wenn die Kirschbäume blühten und die gelben Löwenzahnwiesen zum Ver-
weilen lockten.

Zögernd näherte sie sich dem alten, maroden Haus, das verlassen und karg
inmitten dieser Wiese vor sich hin trauerte. Die knarrende Holztüre quietsch-
te und ließ sich nur mühsam öffnen.
Kein Mensch da. Kein Strom, kein Licht, gar nichts. Spinnweben zogen sich
um ihre Augen, den Mund, in die Haare. An Mobiliar war fast nichts mehr
vorhanden. Ein alter Diwan, ein wackliger Stuhl, eine Wanduhr aus dunkler
Eiche und ein wunderschöner, dunkelgrüner Kachelofen. Davor eine harte
Bank und ein Wäscheseil, das von Wand zu Wand gespannt war. In der Ec-
ke ein kleines Tischchen, das scheinbar ein Wanderer irgendwann für einen
kurzen Aufenthalt vom  Sperrmüll hergeholt hat und ein alter Stuhl, an dem
ein Bein angeknabbert war. Von einem jungen  Hund vielleicht, der sich die
Zeit vertrieben hat.

Die Luft war stickig. Sie öffnete alle Fenster, soweit das überhaupt ohne
Werkzeug möglich war und ging ins Freie, um Frischluft zu atmen. Vor
dem Haus stand ein Plastikstuhl und eine kaputte Blumenampel. Da war
jemand, der hier vor Kurzem spartanisch gelebt hat. Man konnte es an der
angebrochenen Kaffeepackung erkennen. Seit zwei Jahren war die Verfall-
zeit abgelaufen.

Sie rückte den Plastikstuhl neben der Eingangstür zurecht und setzte sich.
Blickte lange in die trostlose Runde. Irgendwie froh, dass es Frühling war,
sah sie über Wiese, zwei, drei in sich verschlungene Dornensträucher und
den davor stehenden knorrigen Kastanienbaum hin, dessen ausladende Kro-
nenarme das Haus umwucherten, vernahm das Rascheln hellgrüner Blätter
im leichten Wind, das Zirpen zweier Blaumeisen, die von Ast zu Ast schwirr-
ten...Und dann plötzlich ein Geräusch, das sie ebenso plötzlich zusammen-
zucken ließ. Ein Knacken...so, als würden sich schwere Schritte dem Haus
nähern.
Doch da war nichts. Das Gehör spielte ihr offenbar einen Streich.
Und doch...wieder jenes Knacken. Diesmal klar und laut.
Sie warf den Kopf herum, sah hinter sich, blickte zur Seite - nach links,
dann in die entgegengesetzte Richtung und schließlich wieder geradeaus, zur
Eingangstür. Dort verschwand jemand flugs im Hausinnern - fast unmerklich
und doch deutlich genug, so dass sie jäh aufsprang, um im Haus nachzusehn,
wer oder was dort Unterschlupf suchte.

Da saß er...der Fremde, auf dem Fußboden, unter der alten Wanduhr und
starrte sie ebenso verwundert an, wie sie ihn.
Sekunden rannen dahin. Wurden zu Minuten und sie beide schwiegen im-
mer noch, bekamen kein Wort heraus. Ein Wanderer ist er sicher nicht, da-
für sind seine Kleider viel zu zerschlissen, kam sie langsam wieder zu klaren
Gedanken...Ein alter Mann mit tiefen Furchen im Gesicht, die Augen: scheu
und zunächst auch abweisend. Vor ihm, auf dem Boden, lag ein Bündel Rei-
sig, das vorhin nicht dort war. Also brachte er es von draußen mit, um Feuer
im grünen Kachelofen anzuzünden.

Sie starrten immer noch wortlos einander an. Doch schließlich brach der
Mann die laute Stille, griff zum Feuerholz, kroch beinahe auf allen Vieren nä-
her zum Ofen hin, warf das Reisig hinein, zündete es mit einem Gasfeuerzeug
an, das er aus der ausgebeulten Hosentasche zog und schob ein paar feuchte
Holzscheite hinzu, die schon länger hier verstreut umherlagen. Als die erste,
kleine Flamme in die Höhe züngelte, wendete er sich wieder der Besucherin
zu - und lächelte schwach. Sprach jedoch kein einziges Wort. Nur sein Lä-
cheln: als würde das auch völlig reichen, um einander zu verstehen.
Sie fühlte sich nicht unwohl und doch auch nicht besonders angetan vom
Schweigen, das wie eine riesige Bleiglocke über ihnen im Raum hing.

Irgendwann hielt sie die unerklärliche, schwere Stille dann doch nicht mehr
aus, wandte sich ab, lief, mehrmals stolpernd, zur Außentür, wollte nur noch
fort von dem scheinbar doch nicht ganz gottverlassenen Ort, um ihn auch nie-
mals wieder aufzusuchen - das schwor sie sich schon jetzt!
Doch plötzlich holte der Fremde sie ein, schob sie an den Schultern sanft vor
sich her, zurück ins Hausinnere. Er nahm den einen wackligen Stuhl im Eck,
zog ihn zu sich - zu ihr - und hieß sie wortlos, sich zu setzen.
Und dann sprach er endlich. Erzählte ihr von seinem Leben...Sehr lange. Ehe
er ging.


Später...Auch viele Tage später fragte sie sich selbst noch oft, wie es sein konn-
te, daß der alte Mann, der das Haus jahrelang bewohnte - ja, schon von Kinder-
tagen an hier Zuhause war - und letztes Jahr verstorben war...Wie es sein konn-
te, daß er nochmals hierher zurückfand - wer weiß, wie oft schon? Warum nur
sie allein ihn sah, an jenem schönen, milden Tag im Frühjahr? Und warum er
ausgerechnet ihr von seinem Leben erzählte?

                                                                   *

Nun ist sie wieder hier. Es ist Frühjahr. Die Sonne wärmt angenehm. Sie sitzt
dort draußen, in der Wiese, auf dem Plastikstuhl, vor´m alten Haus, schaut
sich lange und irgendwie auch beruhigt um - vernimmt von irgendwo ein ver-
trautes Rascheln. Nein, knacken...Wie von Schritten.
Sie lächelt.

Erzählung: (c) Ralph Bruse

Nachtgespräche

In langen Nächten
Reden sie sich
Um Kopf und Kragen
Trinken zuviel vom Wein
Im Zigaretten – Nebel
Vergessen sie die Zeit
Und ihre Liebe.

Füttern die Musikbox
mit Münzen, bis sie leiernd
die falschen Platten spielt
und den Geist aufgibt -
wie fast jeder, hier.

Manchmal kommt einer herein,
dem zu wohl ist.
Dem reichen sie dann gleich
drei Gläser Wein, damit
er runterkommt.


(c) Ralph Bruse

Blüten-Staub

 

 

Da draußen kommt mir in den Sinn,

daß ich auch Blütenstaub nur bin,

den der Wind ins Nirgends trägt

und sich - wie wir - dann ruhend legt.

 

...Doch kann er nie am Orte bleiben.

Wir werden mit ihm weitertreiben.

 

 

(c) Ralph Bruse

     Christine

       Ralph

       Heike

  unbekannter Maler

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