(Psycho-)Dramen
Inhalt:
Das Lächeln von Delphin
Letztes Spiel
Liebe und Hass
Die Mühle
Zimmer 5
Lydia
Das Lächeln von Delphin
Als er in den Klospiegel starrte, bemerkte er Büschel loser Haare,
die sich nach und nach von seinem Kopf abseilten. Marcel wunderte
sich nicht sonderlich darüber. Haare werden eben weniger, wenn
man älter wird und krank ist. Er zog einen Kamm aus der Arschta-
sche hervor und striegelte den Kopf. Das hintere Haar zog er nach
vorn, Richtung Stirnansatz, so war das glatzköpfige Übel notdürftig
behoben. Zwar sah er nun ziemlich befremdet in sein Spiegelbild,
aber dreckige Klospiegel haben ohnehin nicht viel Erbauliches zu
bieten, redete er sich ein. > Wahre Schönheit kommt sowieso
von innen, < schnarrte er laut.
Sein heiseres Lachen klang nach Sarg - nicht besser, aber immer-
hin auch nicht schlimmer. Sarg bleibt Sarg.
Gleich wird er wieder nach nebenan humpeln, um sich für
diesen Tag den Rest zu geben. Er will sich von der hässlichen
Fratze im Spiegel losreißen, doch etwas hält ihn zurück. Er
weiß nicht was - ahnt nur, daß er für den Moment hier, im ver-
sifften Kneipenklo, besser aufgehoben ist.
Ihm fällt auf, daß sein Hosenstall wieder mal offensteht. Das
passiert öfter in der letzten Zeit, und es fällt den Trinkkumpa-
nen im Lokal meist schneller auf, als ihm selbst. Er zuckt die
Achseln. Warum soll ich mir darüber ´n Kopf machen, was
Leute so denken, ist seine Maxime geworden. 'Arme Sau' ist
noch das Mildeste, was er so zu hören kriegt. Seit jene Halb-
starken ihm neulich Nacht fast das Leben ausprügelten, ist
ihm überhaupt so ziemlich alles egal geworden. Die Bengels
sind wieder über alle Berge, und der alte Zausel kann sich
kaum noch rühren, vor Schmerzen. Scheiß drauf!, haben die
Typen gejohlt, als sie ihm ihre Stiefelabsätze sonstwohin ramm-
ten.
Scheiß drauf!, brummelt auch er jetzt, während er sein hum-
pelndes Bein entlastet, indem er es lustlos an die Pisswand
donnert.
Der jähe Schmerz jagt ihm Schweiss auf die Stirn. Das gesun-
de Bein knickt weg. Er rutscht aus und klatscht rücklings in
die gelbe Pfütze, die er in Folge mangelhafter Treffgenauigkeit
zuvor neben die Ablaufrinne platziert hat. Er flucht nicht ein
einziges Mal. Fluchen bedeutet Kräfteverlust, und den kann er
sich in seiner gegenwärtigenVerfassung nicht leisten. Er ver-
sucht es mit linkischen Dehnübungen, um wieder auf die Beine
zu kommen. Das Waschbecken - es knirscht bedrohlich unter
dem Zug seiner Hand.
> Na, denn eben nicht!, < knurrt er.
Die Trennwand - sie hält seinem Griff stand. Gerade will er
sich Stück um Stück daran hochziehen, da vernimmt er laute
Stimmen aus dem Nebenraum... so laute, daß es in seinen Oh-
ren vibriert. Dann ein Poltern... Nochmal... Vielleicht von um-
geworfenen Stühlen, oder Tischen. Geschirr schebbert zu Bo-
den...
> Verschwindet, Ihr Schweine!, < schreit jemand....Bernard,
der Wirt. So hat er Bernard noch nie brüllen hören. > Keinen
roten Heller kriegt Ihr Bastarde mehr von mir! <
Wieder krachendes Geklirre.
> Ihr seid das Letzte! Abschaum seid Ihr! <
Bernards Stimme überschlägt sich fast. Trotz aller Wut ist da
aber noch etwas Anderes, das in seiner Stimme mitschwingt...
Angst. Blanke Angst!
Das Klirren und Poltern wird immer heftiger.
> Jeder armselige Penner in der Gosse hat mehr Anstand in den
Eiern! Haut ab, Ihr Blutsauger! Holt Euch das Schutzgeld an-
derswo. Hier ist endgültig Sense damit! Los, raus, undzwar ganz
schnell!! <
Ein dumpfes, hartes Bollern. Dann ein Knallen...ein ohrenbetäu-
bendes Knallen.
Und Stille...Totenstille.
Marcel packt ein Frieren, wie das eines Nackten im ewigen Eis.
Gleich werden sie auch hier hereinkommen und ihn abermals
verprügeln...Nochmal überlebt er die schmerzvolle Prozedur
nicht. Halbtote sind schnell ganz tot...Er faltet die Hände wie
ein Betender, obwohl er allen Heiligen, da oben, längst ab-
schwor. Wenn nur einer der Kerle, nebenan, pinkeln muß,
dann ist es aus mit ihm!, jagt es ihm durch den Kopf. Eigent-
lich könnte man darüber lachen - doch sitzt du erstmal bein-
lahm in der eigenen Pisse, wenn nebenan die Hölle köchelt,
dann bleibt Dir das Gekicher schneller als du denkst im Hals
stecken.
Mit aufeinandergepressten Lippen und fast übermenschlicher
Kraft schleppt er sich auf allen Vieren hinter die Tür des Klo-
setts, auf dem 'größere Geschäfte' erledigt werden. Das rettet
ihm wahrscheinlich das Leben. Im gleichen Augenblick fliegt
nämlich die Tür zum Lokal klowärts auf...
Marcel keucht. Sein pfeifender Atem wird ihn sofort verra-
ten - also zwingt er sich, das asthmatische Luftholen zumindest
einzuschränken. Er späht durch den winzigen Türspalt. Der
Mann an der Pisswand sieht nicht so aus, als würde er Halma
mit ihm spielen wollen. In aller Ruhe zieht der seinen Hosen-
schlitz auf und grunzt vergnüglich, als würde der dampfende
Urinstrahl wie ein schleusenartiger Samenerguß abgehen. Für
kurze Zeit schließt der bullige Kerl die Augen. Dann furzt er,
zieht seinen Pinkelhahn wieder ein und strebt zur Tür.
Plötzlich stoppt er. Marcel bibbert wie ein Fisch im Netz. Hat
der Riese ihn etwa bemerkt?
Nein - hat er zum Glück nicht. Dem passt anscheinend der
beissende Geruch nicht, der hier herrscht. Seine dicke Nase
kräuselt sich. > Was 'n Drecksloch!, < murrt er angewidert
und lässt die Tür endgültig hinter sich zukrachen.
Marcel wagt den ersten, langen Atemzug...ganz vorsichtig.
Er hört Schritte, die sich entfernen. Auch die Außentür kracht
ins Schloß. Dann ist es so ruhig, wie in einer Kiste, zehn Meter
unter der Erde.
Was ist da nebenan passiert? Er ahnt das Schlimmste.
Schweissgebadet kriecht er aus seinem Versteck. Meter für
Meter schleppt er sich vorwärts. Endlich...die Tür zum Gast-
raum. Er horcht sicherheitshalber nochmals in die trügliche Stille.
Nichts. Kein Mucks... Er packt die Tür; stemmt sich nach oben.
Sein verletztes Bein meldet sich mit tobendem Schmerz zurück.
Die Lippen bluten, weil er zu fest darauf beißt.
Geschafft! Er steht auf seinen zwei Beinen - wackelig zwar, aber
es macht sich. Sein Blick huscht umher. Jemand hat das Licht im
Raum ausgemacht. Marcel wagt nicht daran zu denken, was die
Kerle noch alles ´ausgemacht´ haben...Er hört ein Stöhnen, das
vom anderen Thekenende kommt.
Das Stöhnen nimmt an Heftigkeit zu, auch wenn es kurz darauf
nur noch stoßweise zu hören ist.
Marcel ahnt, daß es der letzte Kampf eines Sterbenden ist - er
ahnt es jetzt, in dieser Sekunde!
Zögernd tastet er sich in die Richtung vor, aus der das trostlo-
se Klagen kommt. Er hat Mühe, sich bei der Finsternis zurecht-
zufinden. Immer schnurstracks an der Theke entlang, fällt ihm
ein. Drei Schritte, vier, sechs... Seine Augen gewöhnen sich ins
Dunkel, noch ehe er Bernard, verkrümmt am Boden liegend,
findet. Sein Herz krampft sich zusammen. Die Schweine ha-
ben Bernard eiskalt in den Kopf geschossen. Schlimm sieht er
aus, dieser Kopf - von einem Blutsee umzingelt und eigentlich
nur noch wie durch ein Wunder am Leben. Bernards´ Hand
streckt sich ihm entgegen. Dann fällt sie abrupt ins Leere.
Marcel kniet sich nieder. Offenbar will Bernard ihm noch et-
was sagen. Ganz nah kommt der merkwürdig verzerrte Mund
seinem Ohr. > Schlus... , < keucht er. Blut rinnt aus den Mund-
winkeln. > Schlus...Schlus..., < wiederholt er.
> Was Schlus, Bernard..? <
> Schlüs...<
Er spuckt das viele Blut aus, aber der Mund füllt sich sofort wieder.
> Schlüs...?? <
Die Zeit drängt in wahrstem, traurigem Sinne und verscheucht den
Rest seiner Trunkenheit endgültig.
> Du meinst: Schlüssel..?! <
Der blutende Kopf windet sich schwach. Der verkrümmte
Arm, darunter, hebt sich nocheinmal. Es ist das letzte Wunder, das
Bernhards ausblutender Leib vollbringen kann.
> Die Kassette, da...oben, auf der Anrichte...<
Marcel öffnet sie ruckartig. Während ihn ein paar Geldscheine an-
lachen, sackt Bernards Kopf zur Seite. Sein Leiden ist zu Ende.
Marcel fällt die Blech-Kassette aus den Händen. Er ist viel zu be-
nommen, um den Schlüssel, der mitten auf Bernards breiter Brust
landet, gleich zu entdecken. Seine knorrigen Finger schließen die weitaufstehenden, fragenden Augen des Toten. Erst als dickeTrä-
nen über seine welken Wängen rinnen und der Blick vollends
verschwimmen will, ertastet er Bernards Schlüssel. Mühsam rap-
pelt er sich hoch. > Was soll ich kleine Leuchte mit dem verdamm-
ten Scheissschlüssel, Bernard?!, < klagt er mit erstickender Stimme.
> Ich will den Schlüssel nicht! Komm hoch, und nimm ihn zurück,
den verdammten Schlüssel! Los, steh auf, Mann!...Los doch, Ber-
nard!! <
Ungehört bleiben Fluchen, Flehen und Weinen.
Er humpelt zur Tür. Das Letzte, das er sieht, ist ein toter Freund.
Ja, für ihn war er wie ein Freund, der dicke Bernard - nie geizig,
meist gutgelaunt und hier sowas wie gelassene Schlampigkeit
pflegend - genau wie seine Gäste.
Marcel wischt sich Tränen vom Gesicht. Klagt verbittert:
> Hat´s auch noch den allerletzten Freund, den du hattest, er-
wischt. <
Nie war sein Seufzen tiefer. Zögernd reisst er sich vom An-
blick des Toten los; stolpert raus, in die kalte, sternenlose Nacht.
Am nächsten Tag.
Der Brief muß schon lange im Postfach gelegen haben. Er ist
ver-
gilbt. Marcel wendet ihn mehrmals in seinen Händen. Von Delphin
Sore'.
Kennt er nicht.
Darunter die Anschrift.
Bernard, und Frauengeschichten?
Der Brief ist verschlossen und frankiert. Marcel hinkt an den
Schalter; gibt den Brief auf. Er hat die letzte Bitte eines Freun-
des erfüllt. Recht zufrieden darüber, verlässt er das Postamt.
Einige Wochen danach.
Bernards Lokal hat nun ein Anderer übernommen. Die Gäste sind
immer noch dieselben - nur Jean, der neue Wirt hält nicht viel von
den abgewrackten Leuten, die täglich bei ihm eintrudeln. Der neue
Wirt zahlt auch wieder brav geforderte Schutzgelder und denkt schon
laut über einige, gründliche Änderungen im Lokal nach. Demnächst
soll hier ein piekfeines Restaurant, statt der Kleine-Leute-Kaschem-
me entstehen. Dann wird ´das Gelumpe´, wie Jean die meist ärmli-
chen Leute mitunter verächtlich nennt, wohl endgültig abwandern,
und vornehme Menschen in feinem Zwirn werden hier Einzug halten.
Soll er doch, denken die meisten der alten Gäste eher mutlos.
Aber noch ist es ja nicht soweit. Erst in zwei Wochen soll der Umbau
beginnen.
Drei Tage vor Ablauf genannter, zwei Wochen betritt eine Dame das
Lokal, die niemand kennt. Sie ist nicht besonders schön, aber auch
nicht hässlich, so um die Fünfzig, auf eine altmodische Art elegant,
und sie ist ganz in Schwarz gekleidet.
> Ich suche jemanden, < sagt sie unumwunden, nachdem Jean ihr
katzbuckelnd den Tisch gewienert hat, an dem sie Platz genommen
hat.
> So? Und wer soll das sein? Doch nicht etwa einer von dem Gelum-
pe, hier. <
Sein Grinsen wirkt säuerlich, denn sie antwortet ihm schroff:
> Könnte sein, daß es einer der Lumpen ist, wie Sie Ihre Gäste nen-
nen. <
Sie hält einen Brief hoch. Einen vergilbten Brief.
> Hat jemand von Ihnen den Brief aufgegeben?, < ruft sie laut
in die Runde.
> Ja, ich, < kommt es zaghaft aus einer Ecke in Klonähe zurück.
> Ich hab Bernard versprochen...<
Der Mann stockt. Er verflucht seine Geschwätzigkeit, die ihm jetzt
eventuell Ärger einbringen könnte. Der Mord an Bernard war noch
immer nicht aufgeklärt. Und nichts ist
dümmer, als sich durch leicht-
sinniges Geschwätz erstrecht verdächtig zu machen.
Er winkt ab.
> Vergessen Sie ´s. Wollte nur ein wenig angeben. <
> Warum nicht, < erwiderte sie
lapidar. Sie erhob sich und kam an
seinen Tisch. Das scheue Lächeln ihres Mundes stand ihr gut.
Marcel wirkte verlegen.
> Ich bin Bernards Schwester. Delphin Sore'...Freut mich sehr! <
Ihre Hand fühlt sich so zart wie der Flügel einer verletzten Am-
sel an, kam es ihm in den Sinn. Nur, weicher ist diese
Hand; viel
weicher und wärmer.
Eine seltsame Vertrautheit machte sich zwischen ihnen breit.
Das Lächeln der Frau wurde so weit und groß wie das Feld der
Amsel. Eine helle, angenehme Stimme zudem.
> Darf ich? <
Behutsam löste sie ihre Hand aus seiner.
> Was soll das hier...? <
Während sie aus seinem Weinglas trank, entstand auf ihrer
glatten Stirn eine steile Falte. Sie spuckte aus.
> Wieviel bezahlen Sie für das Gebräu? <
> Sieben Franc, < sagte Marcel verwundert. > Ist wohl zu-
viel, oder? <
> Kann man wohl sagen. Außerdem sind das Limonadenglä-
ser, < fügte sie schon leicht gereizt hinzu. > Hier gibt es Wein
in Limonadengläsern?! <
Sie begann, die Gesichtsfarbe zu wechseln. > Da drüben stau-
ben die schönen Weinkelche vor sich hin. Vielleicht sind sie ja
zu schade für das ´Gelumpe´ im Lokal. <
Sie wies zur Anrichte, hinter der Theke. Dann spazierten ihre
forschen Blicke von einem Gast zum anderen. Bei Jean, dem
Wirt, stoppten jene direkten Blicke aus großen, dunklen Augen.
> Na hören Sie mal!, < rief dieser brüskiert. > Was soll der
Blödsinn?! Sie kommen hier rein, wedeln wichtigtuerisch mit
dem Brief herum, und jetzt muß ich mir auch noch vorwerfen
lassen, daß ich die falschen Weingläser verwende! Sie belei-
digen mich, Madame! <
> Sie werden's überleben, < konterte sie kühl. Es wird nur die-
se eine Beleidigung geben, mehr sicher nicht. Wie lange brau-
chen Sie, um den Platz hinter der Theke zu räumen?...Zwei
Minuten? Gut...Nein, eine Minute reicht wohl...<
Der spacke Wirt wird ganz blass um die Nase herum.
> Ich bin Pächter dieses Lokals. Was bilden Sie sich eigentlich
ein, mich...<
Weiter kommt er nicht.
> Richtig. Sie sind Pächter und zahlen Ihre Pacht an den Besitzer
und sonstige Vasallen, nicht wahr? ...Und nun raten Sie mal, wem
das alles hier gehört..? Na, schon drauf gekommen? Richtig, mir ge-
hört das Lokal. Ich werde es auf Wunsch meines Bruders weiterfüh-
ren - aber anders. Gründlich anders, genauergesagt. Und Sie sind
einstweilen schon mal fristlos gekündigt. <
Noch immer wirkt ihre Stimme unerhört ruhig, auch wenn sie mäch-
tig Fahrt aufgenommen hat. Ihr Haar weht auf wie blonder Staub,
als sie den Kopf schnell herumwirft und nun Marcel fixiert.
> Na, wie wärs? Sie können das doch viel besser. <
> Wieso iichch?, < stottert er.
> Darum...Bernard konnte sich ja auch auf Sie verlassen, wegen des
Briefes. Warum sollte ich dann an Ihnen zweifeln? <
Sie schenkte ihm ein Lächeln, das ihm Mut machte.
> Ich vertraue Ihnen. Mehr Worte braucht es nicht. <
Der soeben entlassene Wirt warf wütend die Außentür hinter sich
zu. Weg war er. Und die Anspannung in den Gesichtern der wenigen
Gäste löste sich bezeichnenderweise im Nu. Einer feixte. Ein anderer
faselte unverständlich, aber irgendwie auch zufrieden vor sich hin.
Marcel marschierte zunächst schnurstracks nach nebenan, Richtung
Klosett, um sein letztes, bisschen Kopfhaar in Ordnung zu bringen.
Wieder mal fallen Büschel davon zu Boden. Seine Glatze lichtet sich
fast völlig. Wenn das letzte Haar übrig ist, muß auch er gehen - er
weiß es. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, aber diese Zeit wird er leben -
wirklich leben - auch das weiß er in dem Moment.
Er streckt seinem kränklichen Spiegelbild die Zunge entgegen. Dann
humpelt er retour, in den Gastraum.
Das erste, mit zitternden Fingern eingeschenkte Weinglas, bekommt
die resolute Dame in Schwarz.
Er verschluckt einen Halskloß nach dem andern. Liebe
Güte, ihr andauerndes, aufmunterndes Lächeln macht mich
noch ganz me-
schugge!
Er füllt das nächste Glas, das übernächste, als er sie - also: Delphin -
auf sich zukommen sieht.
> Würden Sie mir morgen in der Stadt ein bisschen Gesellschaft
leisten, Marcel? <
Er kann garnicht nein sagen, also sagt er ja. Sie hebt ihr Weinglas,
betrachtet das schaukelnde Rot, darin, und senkt es wieder. Kaum
hörbar flüstert sie:
> Es gibt nach Bernards Tod noch einige, wichtige Dinge zu erledigen. <
> Natürlich. Versteh´ ich, Madame, < beeilt er sich zu sagen.
> Wie gesagt, Sie haben mein volles Vertrauen, Marcel...<
Sie beugt sich noch näher zu ihm.
> Wissen Sie, manchmal schreibt man in Briefe soviele, unwichtige Din-
ge hinein, daß es mühsam ist, sie auszulesen. Aber mitunter stehen da
auch interessante Neuigkeiten drin. Namen schlechter Menschen, zum
Beispiel... Denen sollte man dann bei Zeiten einen Besuch abstatten,
finden Sie nicht...? <
Jetzt passt nichts mehr zwischen sie, so eng stehen sie beieinander.
> Es wird nicht sonderlich schwierig sein, eine Waffe zu besorgen. Und
mit viel Mut und einem üppigen, finanziellen Extra finden wir auch je-
manden, der das abschließend in die Hand nimmt...<
Ihr Lächeln wirkt jetzt traurig. Aus dem Weinglas in ihren Händen
schwappt etwas Inhalt zu Boden.
> Nun, wie
ist es, Marcel... Wollen Sie mich noch immer in die Stadt
begleiten, morgen? <
Sein Mund klappt auf.
> Schaun Sie mich doch nicht so böse an!, < beschwichtigt sie.
> Ich seh´ Sie nicht böse an, Madame, < antwortet er schließlich. Und
das meint er auch so.
> Gut. Dann bis morgen! <
Sie küsst ihm spontan die schlaffe Wange.
Später, als sie das Lokal verlässt, sagt sie noch: Ich
denke, wir werden
wirkliche Freunde, Marcel.
Wenn nichts dazwischen kommt...brummelt er später zu sich selbst.
Der letzte Gast torkelt ins Freie. Marcel schließt hinter ihm ab, als
wäre es das Normalste der Welt, hinter Leuten abzuschließen.
Er richtet sein provisorisches Nachtlager aus vier zusammen gescho-
benen Stühlen her.
Ehe er einschläft, sieht er das Bild von Delphin vor sich - sieht, wie sie
seine unrasierte Wange küsst, und das traurige Lächeln ihrer Augen...
Sie ist sogar noch schön, wenn sie traurig ist.
Ja - sie und ich werden morgen durch die Stadt bummeln. Wir zwei
ganz allein. Werden einkaufen - guten Wein, vielleicht. Etwas Deko
für´s Lokal. Kleider für sie, bestimmt. Und: die Waffe...Seine Tage
sind ohnehin gezählt. Und: zweimal sterben die Wenigsten.
Leben für jeden Moment, heißt die Devise.
Keine Angst mehr.
Sein Lächeln fällt zuerst in den Schlaf.
© Ralph Bruse
Letztes Spiel
Spät tritt die Dämmerung herein.
Draußen, über dem Weiher, zittern glatte Spiegel. Alles zittert - der un-
ruhige Wind, die Vögel im Gestrüpp, knarrende Birken und ihre nack-
ten Astarme, die sich ahnend über alle Ufer beugen.
Und alle sind da, um zum letzten Mal der sterbenden Stille dieses Som-
mertages beizuwohnen - Jana, Hella, Ingo, Jörg, und die Fledermäuse -
ja, auch sie. Pfeilschnell surren sie über die Köpfe der Jungen und Mäd-
chen hinweg. Ihr scharfes Pfeifen, das wie Schreie im Schwarz der an-
brechenden Nacht verhallt, jagt den Jugendlichen etwas Angst ein.
Das letzte Licht des Tages vergeht.
Jetzt regieren nur noch Finsternis und der blasse Mond.
Hella wirft einen Apfel in die Luft. Blitzschnell stürmen zwei Fleder-
mäuse darauf zu. Eins der Tiere kann den Apfel erwischen und für einen
Augenblick festhalten. Doch der Apfel ist zu schwer. Er fällt ins Wasser.
Den nächsten Apfel wirft Jana. Nur zum Schein - sie hält ihn immer
noch in ihrer Hand.
Eine Fledermaus wagt das Unmögliche. Sie rauscht heran - umklammert
schließlich Janas' Schulter.
> Auuaaahl!, < motzt sie eher leise und staunend, als laut und zürnend.
Ihr ist auch nicht bange wegen der Schramme, die ihr der Nachtjäger zu-
fügen wird. Sie hat nur Angst vor dem, was morgen sein wird...
Sie seufzt - verschluckt einen Halskloß. Dann hält sie den Apfel hinter
sich und spürt den erfrischenden Lufthauch flirrender Flügel, der ihr
schweissnasses Haar kühlt. Eigentlich hört sie auch nichts, was darauf
hindeuten könnte, daß eine Fledermaus auf ihrer Schulter hockt. Nur
jene zarten Flügelschläge fühlt sie; den sanften Druck in Rücken und
Schultern, der verrät, daß sie dem Tier vertraut ist. Ganz still sitzt sie
da, und sie redet - nein, sie flüstert mit dem nächtlichen Gast, ganz dicht,
hinter sich. Sie weiß, wenn sie den Kopf herumwirft, wird die Fledermaus
wieder flüchten...Also bleibt sie ruhig sitzen und flüstert eher selbstver-
gessen vor sich hin.
Hella schüttelt sich sachte. Wie oft hat auch sie schon versucht, eins der
'Biester' zum Fressen auf Kopf oder Schultern zu bewegen! Doch sie
schaffte nie, was Jana offenbar spielend fertigbrachte. Nur Jana war
dieses Vergnügen vorbehalten - dem Mädchen mit dem dunklen Haar
und den noch dunkleren Augen. Vielleicht besaß sie einen unbestimm-
ten Sog - eine unerklärbare Anziehungskraft, die Fledermäusen behagt.
Manchmal kam es Hella gar so vor, als würde immer dieselbe - ja, ein
und dieselbe Fledermaus die Schulter ihrer Freundin in Besitz nehmen.
Weiß der Teufel, warum immer ausgerechnet Jana den Vorzug bekam?!
Die Jungen, in der Nähe, hatten ein Lagerfeuer angemacht. Gerade stapf-
ten sie ans Ufer, um die Mädchen zu sich zu holen. Das Knacken dürrer
Äste ließ die Fledermaus in ein kurzes Angstpfeifen ausbrechen. Dann
verschwand der Schatten des Tieres im blassen Licht des Mondes.
Jana besah den Apfel. Er war fast ausgehöhlt. Nur etwas rote Schale
und Stengel waren geblieben.
> Scharf auf Äpfel. Nicht auf Blut, < kicherte sie. Märchen von blutgie-
rigen Nachtfaltern sind eben nur Märchen. Das Mädchen jedenfalls weiß,
daß ausschließlich Beeren, Obst, oder Insekten den Tieren als Nahrung
dienen.Und wenn die Mädchen auch manchmal etwas aus tieferen Schram-
men an Schultern, Hals, oder Nacken bluteten, so waren sie deswegen ge-
wiss nicht gleich blutleer, oder gar wandelnde Untote.
Sie kicherte wieder und sah zu, wie der weggeworfene Apfelrest im tiefen,
schwarzen Wasserspiegel versank.
> Kommt Ihr rüber?, < rief einer der Jungs.
Jana schmollte noch etwas, aber Hella hakte sich bei ihr ein und riss sie
im Übermut mit sich.
Am Feuer, an einem hellglühenden Spieß, schmorten Kastanien.
Jörg schob weitere Kastanien, wie Perlen einer Kette, hinzu.
Sie aßen schweigend.
Einige Minuten vergingen. Nur das Gurgeln des Weihers war zu hören.
Auch das Säuseln fast schlafender Winde und das leise Krachen heisser
Maronen.
> Schmeckt nicht übel, < versuchte Ingo die trübe Stimmung zu bessern.
Es gelang ihm nicht.
> Ist okay, < erwiderte Hella eher gleichgültig. > Gib mir noch eine. <
Die Hand des Jungen zitterte.
> Was is 'n mit dir los?, < flappste Ingo. > Wohl auf Entzug? <
Sein Lachen klang anders als sonst - heiser und abwesend. Nicht dran
denken. Bloß nicht dran denken!, hetzten seine Gedanken umher.
> Ist das endgültig, daß der Weiher trockengelegt wird?, < will Hella wis-
sen. Obwohl es in jener Herbstnacht ungewöhnlich warm ist, packt sie
ein heftiges Frieren.
Jörg zuckt zusammen, stopft sich eine weitere Kastanie in den Mund, um
nichts sagen zu müssen.
Elende Stille.
> Jo, ist fest, < antwortet Ingo schließlich. Seine Stimme zittert. Er reisst
Grasbüschel aus - mehrere gleichzeitig - flucht laut.
> Ist sicher, wie 's Amen in der Kirche! Die Stadtoberfuzzis haben das
Schloß, gegenüber, an so 'nen stinkreichen Heini verkloppt, hat mein
Vatter mir neulich verklickert. Ist kein Geld mehr im Stadtsäckel, um das
Schloß in Schuss zu halten, meint er. <
Ingo erschlägt eine Mücke auf seinem Unterarm. > Morgen früh komm'
die Bagger, < sagt er verbittert.
> Was wird aus unser'm Angelsteg? Und die Fledermäuse?, < will Jana
wissen.
Ingo hebt die Schultern.
> Pfffft! Wird plattgemacht. Kommt alles weg! Für uns, den Weiher und
'ne Horde Fledermäuse interessiert sich eh kein Schwein. <
> Für uns sollten die sich schon interessieren, Mann!, < erwidert Jörg.
> Wir müssen doch irgendeine Sau interessieren..! Das ist doch auch
unser See! <
Er beugt sich vor. In seinen Augen nistet ein bedrohliches Blitzen.
> Das ist Scheisse, Mann!, < brüllt er. Totale Schifferscheisse!! <
Der Junge, ihm gegenüber, weicht zurück.
> Sag das den Hirnies im Rathaus und nicht mir!, < schreit er ebenso
laut. > Die verscheuern doch alles, was wir hier haben!
Seine Hände werden zu Fäusten.
> Was bleibt uns denn in dem Kaff, hier?! Na, was?... Nichts! Ja klar, den
dämlichen Hipphoppschuppen haben wir. Das wars aber auch schon. Und
da lassen die auch nicht jeden rein, sondern nur Leute, die die dicke Kohle
mitbringen. 'nen ganzen Abend an 'ner Cola nuckeln, das läuft nicht mehr.
Denn setzen die dich nämlich raus, an die Luft. Ende der Party. Und
Tschüß...Scheiße nochmal, was gibts sonst noch in dem Kaff?!...Nothing.
Nix. Tot! <
Obwohl sie Freunde sind, starren sich die beiden Jungs jetzt wie Erzfein-
de an - kurz davor, sich blindlings an die Gurgel zu springen.
> Heeh, was soll das?!, < schreit Hella. Sie springt auf.
> Habt Ihr sie noch alle?! Seid Ihr Freunde, oder Idioten?! <
Nur langsam kommen die heissen Gemüter zur Ruhe.
Die plötzliche Stille erschlägt sie fast.
> Und was wird denn aus unser'm Weiher?, < fragt Jana nach einer
Weile.
Ingo spuckt verächtlich aus.
> Wird 'n Open-Air-Park. Mit Wellness-Center. Was für 'ne grandiose
Mischung...! Mit allem Pipapo und nur vom Feinsten. Vom Weiher siehste
danach jedenfalls nix mehr. Wird zugeschaufelt, und fertig. <
Er lacht höhnisch.
> Und denn fall'n lauter Porschetouris ins Dorf ein und starr'n uns an, wie
vergess'ne Zooaffen!, < ergänzte Jörg, voll von unguten Ahnungen.
Er warf eine angebissene Marone ins Feuer.
> Mahlzeit. Mir ist der Appetit vergangen. <
Sein Kopf sank vornüber.
Wieder Stille in der Runde. Diese trostlose Stille kroch unerbittlich um-
her - unter ihre Kleider, in stumme Kehlen, in jeden Gedanken - überall
hin.
> Unser See, < klagte Jana unsagbar traurig. > Das ist doch auch unser
See! <
Sie schlug die Hände vor´s Gesicht und weinte.
Ingo schlang die Arme um ihren zittrigen Leib.
> Kommt, lasst uns abhaun, < sagte er. Und fügte hinzu: > Sonst platz'
ich noch! <
Sie zertraten das Feuer. Und als die Schwärze auch die letzten Funken
der Glut verschluckt hatte, war ihnen zumute, als würde nun - genau
in dem Moment - die Tür sorgloser Kindertage achtlos hinter ihnen zu-
schlagen.
Einige Monate danach:
Beton.
Überall Beton.
Riesige Wohnsilos - manche schön bunt angemalt, und dennoch trostlos.
Steinwüste, soweit die Augen blicken. Und dazwischen Kinder. Auch gro-
ße Kinder, die Flaschen von einer Hand in die andere wandern lassen.Wer
schlappmacht, kriegt manchmal eins in die Fresse, oder wird solange mit
Fußtritten malträtiert, bis er wieder zu sich kommt. Die Langeweile re-
giert. Und blanke Gewalt.
Drüben, da wo ein bisschen Grün zwischen den Wohnblöcken prahlt,
hocken Ingo und Jana, Hella und Jörg im Schatten einer Hauswand.
Sie sind betrunken - wieder mal - zetteln gerade heftigen Stunk mit ande-
ren an - wieder mal. Doch diesmal brechen alle Dämme...
Jörg zerschlägt eine Flasche auf dem Asphalt, schwankt auf den Anfüh-
rer einer anderen Gang zu. Jörg hat sich in der Zwischenzeit sehr verän-
dert - nicht nur, weil er plötzlich auch zum Allerletzten entschlossen ist...
Seine frühere Ausgeglichenheit, seine sanften Züge, das weiche Lächeln -
nichts blieb davon - ausradiert; kaputt.
Alles geht sehr schnell.
Jörg reisst die Flasche hoch, zerschlägt sie auf Stein, rammt seinem Ge-
genüber das scharfe Glas in den Bauch.
Der andere Junge glotzt noch verwundert und sackt dann vornüber.
Schreie! Und Blut. Viel Blut, das umherspritzt.
Irgendwer ruft einen Ambulanzwagen.
Sirenen.
Nach einer hektischen Notversorgung, sagt der Arzt: > Er wird es schaf-
fen. <
Die Umstehenden atmen erleichtert auf.
Jörg wird keine halbe Stunde später verhaftet.
> Pillepalle. Drauf geschschisssen!, < lallt er scheinbar unbekümmert,
als sie ihn in die 'grüne Minna´ stoßen und wegbringen.
Später, beim Verhör, spielt Jörg immer noch den harten Kerl, zu dem er
geworden sein soll.
Aber irgendwann sackt er kleinlaut in sich zusammen - ist wieder der
schüchterne Junge vom Weiher... ein Junge, der einst über dem Lager-
feuer Kastanien röstete. Der immer ruhig lächelte, während sein Blick
verträumt über den dämmernden Weiher glitt.
Sie sperren ihn in eine Zelle und er fällt alsbald in einen unruhigen
Schlaf. Er träumt von Jana, von Hella und Ingo; von all seinen Freunden...
Ganz deutlich sieht er sie jetzt: Sie lachen und albern viel, und sie sind
glücklich, weil sie wieder hier draußen, an ihrem Weiher sind, die ganze
Nacht, viele Nächte lang... Die Fledermäuse jagen nach Mücken. Manch-
mal nach einem Apfel aus Janas' Hand, oder nach sonstwas.
Die Vier gehören nur sich selbst und den flüchtigen Nächten - Sommer,
wie Winter.
Sein Gesicht wird nass, jedoch nicht vom Wasser des Weihers. Es sind
Tränen. Seine Tränen.
Er wird wach.
Schnell wischt er die Tränen weg. Er blinzelt durch's Gitter.
Draußen ist es noch dunkel. In seinem Kopf donnern Armeen von Häm-
mer. Die weichen Züge seines Gesichts verhärten sich wieder.
Er schliesst die Augen, um in seinen Traum zurückzukriechen. Doch
sein erster, klarer Gedanke ist:
Den Weiher gibt es nicht mehr.
Geschichte und Bild: (c) Ralph Bruse
(veröffentlicht auf Netnovela. de)
Liebe und Hass
Es ist die längste Stunde seines Lebens....
Elke reisst den Revolver hoch und richtet ihn auf seine Herz-
gegend. Gefährlich, die Gegend, sagt ihm eine warnende
Stimme. Die mieseste Gegend überhaupt!
Ehe er weiß, was er sagen will, eilt sein Blick über den klobi-
gen Tisch. Eins, zwei, drei...sechs, sieben, zählen die weitauf-
gesperrten Augen. Gern würde er weiterzählen - bis acht, ge-
nauergesagt.
Wunschdenken. Die achte Patrone steckt in der Trommel, und
das heißt: eine falsche Bewegung, ein unbedachtes Wort, und
die kleine Kupferrakete kracht in seine Brust.
Ulf atmet tief ein und aus.
> Sei vernünftig, Darling und leg das Ding weg. <
Er beugt sich langsam vor.
> Okay, okay, du hast mir gezeigt, daß du mich umbringen
könntest, wenn du wirklich wütend genug bist. Klar, du sitzt
am längeren Hebel...Aber jetzt hol erstmal tief Luft und über-
leg nochmal genau...<
Eine kleine Pause entsteht.
> Überleg dir genau, ob du nicht lieber rüberkommen willst,
hier, auf diese Tischseite. <
Er klopft auf Holz.
> Na, ist doch besser, meinst du nicht? Gib mir einfach die Ka-
none und wir vergessen das Ganze, okay? Ist doch ‘n Ange-
bot, oder nicht? <
Seine Stimme wird sanfter.
> Heeh, ich liebe dich. Und wir beide wissen, daß du mich auch
liebst...<
Geliebt habe - so kann man sich irren. Elke rührt sich nicht.
Sie sitzt versteinert da - so, als wär sein Sterben beschlossene
Sache. Seine schmierigen Worte dringen nur zögernd in sie
ein. Kein Wunder - ihr heutiger Tablettenkonsum ist bei fünf
zu zwei. Fünf Valium zum Einschlafen, zwei Kaptagon zum
Wachbleiben. Keine gute Mischung. Dazu der Asbach - viel
Platz für klare Gedanken bleibt da nicht. Denken will sie auch
garnicht. Sie will ihn auslöschen; will sich endlich befreien!
Ulf will da natürlich ein Wörtchen mitreden. Er ist sich sicher,
daß sie ihn nach wie vor liebt - trotz allem. Sie muß ihn ein-
fach lieben, weil es jetzt darauf ankommt...! Eigentlich ist er
schon so gut wie tot - doch das ahnt er in diesem Moment
nicht mal - zum Glück, denn sonst wär er wohl blindlings auf
sie losgestürmt. Das krachende Geschoss wird sie nicht auslö-
sen - jede Wette, das schafft ihr dünner Finger nicht!
Und wenn doch?... Ist sein Herz hin. Elke sieht jedenfalls nicht
so aus, als wolle sie vorbeischießen. Scheiße, verdammte!
Also nochmal, auf die sanfte Tour.
> Deine Hand zittert ja, Liebes. Komm, lass den Quatsch. Bringt
eeh nichts, außer lebenslänglich und ‘ne total versaute Bude. <
Ein gequältes Lachen.
> Komm schon, leg das schwere Ding weg und lass uns reden.
Über uns, zum Beispiel. <
Herrje, lauter Süßholzgeraspel!
> Was hälst du davon, wenn wir unser... sorry: meinen Sparfond
plündern und einfach mal für ‘ne Weile abhaun. Seychellen.
Nur Sonne und wir beide. Na, ist das nix?! Oder noch besser:
ich hol uns für die Kohle ‘ne supernoble Sportkarre. Oben oh-
ne, ist doch klaro. Und dann düsen wir sonstwohin. Hauptsache
weg! Düsseldorf. Wie wärs mit Düsseldorf? Im Schritttempo die
Kö lang, vorm teuersten Laden halten wir mal eben, zwecks Me-
gashoppings. Ich mach den Chauffeur, logisch, schwing die Hufen
für dich...Beifahrertür auf, braves Dienerchen und die lässigste
Feststellung der Welt: wir haben viel Zeit, Madame. Kaufen Sie
ein, solange, soviel Sie wollen. Drei Stunden? Vier? No Problem,
der Tag gehört Ihnen! Kaufen, bis die Sonne tschüss sagt. Ver
wöhntag mit allem Pipapo. Also, bis dann, Madame. Und ein er-
quickendes Einkaufsvergnügen...! <
Sein Grinsen.
> Na, wie findest du das? Hört sich doch gut an, ne? ....Nicht
so toll...? <
Weg, sein Grinsen. Dafür reichlich Schweiss auf der Stirn.
> Das isses, Mäuschen!....Ich schenk dir die ganze Kohle und
überschreib dir die Prachtbude, hier. Kommt ungefähr ‘ne
halbe Mille bei rüber. Drauf gepfiffen, auf die Kohle! Geld hat
mich sowieso nie interessiert. Du bist mir wichtiger, als die
schnöden Piepen, Kleines. Ehrlich und ohne Scheiss! <
Wieder das Grinsen. Diesmal deutlich gekünstelt.
> Auf gehts! Lass uns zur Bank tigern und schon ist das gere-
gelt...Nur: ist schon besser, ohne Schießeisen zur Bank zu
gehn, weißte? Sonst meinen die noch, wir wolln die ihre Koh-
le und nicht unsere. Ist ja mal klar, ne? <
Nichts ist klar. Jedenfalls nicht für Elke. Ihre Hände packen
wieder fester zu. Das Metall darin zielt unbeirrt geradeaus.
Ulfs Nerven werden arg strapaziert. Die Hitze in seinem Kopf
wird unerträglich. Warum sagt die blöde Sau nichts?! Warum
wohl...weil die zu ist, bis obenhin. Scheisse, Mann. So eine
Scheisse!!! Er starrt in ihr bleiches Gesicht; sieht matte, reglo-
se Augen, ohne einen sichtbaren Funken echten Lebens. Die
mittlings aufgerissene Unterlippe hängt schlaff herab - ein
ziemlich starkes Bluten. In ihren Mundwinkeln zieht Spucke
auf - weisser Schaum, bessergesagt. Das ungepflegte Haar
klebt wie schwarzer Seetang an der Kopfhaut. Vorne berührt
es das Kinn. Trotzdem scheint ihr nicht die kleinste Regung
seiner Glieder zu entgehen.
Ulf bemerkt, daß sie um Worte ringt. Der Mund öffnet sich in
Zeitlupe. Mehr als Spucke, Röcheln, Gestammel kommt nicht
aus der brodelnden Höhle, dahinter. Sie schafft es einfach
nicht, sich zu artikulieren. Das verschlimmert Ulfs Lage natür-
lich dramatisch. Was nützen ihm die schönsten Versprechun-
gen, wenn Elke sie nicht in die benebelten Sinne einordnen
kann; eventuell auch nicht einordnen will.
Zeit, zu handeln. Es muß was passieren - undzwar schnell!
Ulf denkt nach, so gut er bei der Anspannung überhaupt noch
denken kann...Da sie...Hier ich...Ungefähr drei Meter...Dazwi-
schen der Tisch...Wenn nur der Scheisstisch nicht wär! Binnen
einer Sekunde; höchstens zwei, hätte ich die Trulla am Arm...
Hechter vorwärts, dann seitwärts, um der Schusslinie zu ent-
kommen - abrollen, aufspringen; zack, ihren Arm gepackt;
Schiesseisen krallen; Ende Gelände. Und dann..?
Dann schlag ich der bekifften Trulla die Fresse ganz ein - tot
schlag ich die Sau! Mal sehn, vielleicht klopp ich sie auch nur
halbtot, weil ich sie nämlich vorher noch ‘n bisschen aus dem
Fenster hänge. Birne auslüften. Da kann sie denn ‘ne Weile
abhängen, bis der Verstand wieder auf’m Vormarsch ist. Und
dann gibts Nachschlag, bevor ich sie ratzfatz die Treppen run-
terschmeiss, wieder raufzieh; und weiter im Takt. Darin haben
wir ja schon Übung. Na warte, dich mach ich sowas von fertig,
daß du dir den Rest freiwillig besorgst...!
Sein hohles Kichern bleibt glücklicherweise im Ansatz stecken.
Er malte sich alles schon haarklein aus. Doch die warnende
Stimme flüsterte ihm auch, daß es schlimmstenfalls schief-
geht. Ein Wunder muß her! Immens störend ist jedenfalls
schon mal der verdammte Tisch zwischen ihnen - schwer und
viel zu groß, schränkt der die Möglichkeit eines rettenden
Sprungs drastisch ein. Was tun, Scheisse, elende...?!
Seine Gedanken überschlagen sich.
Ich muß die taube Nuss zum Reden bringen...Irgendein Ster-
benswörtchen wird die ja wohl rausbringen. Man ist ja be-
scheiden - mehr als ein einziges Wort würde in Anbetracht
ihres Zustandes ja glatt an Geschwätzigkeit grenzen. Bloß,
sag mir mal einer: wie ‘ne Scheintote zum Reden bringen?!
Was ‘ne Affenhitze in der Bude. Da läuft dir die Brühe rück-
wärts den Arsch hoch...!
Das Ticken seiner Armbanduhr - nie war es deutlicher; nie
beängstigender und lauter.
ticktickticktickticktickticktick
‘ne halbe Stunde ist schon rum. Mehr als dreißig Minuten! Die
Kuh macht garantiert nicht schlapp. So wie die aussieht, sitzt
die morgen noch da, ohne die Fresse zu verziehn. Wie Kuh im
Packeis. Muuh. Blödmann - warum mußte auch dauernd die
Knarre aus dem Schrank holen? Na ja, wozu ist ‘ne Knarre
denn sonst da? ‘n paar Streicheleinheiten tun der auch gut.
Gewienert sieht so’n Spielzeug doch erst richtig scharf aus.
Außerdem kann’s nicht schaden, das Teil auch mal mit auf
die Pirsch zu nehmen, oder in den Pub. Respekt flößt die Pus-
te allemal ein. Du gehst pissen, lässt das Ding, zwecks heim-
licher Begutachtung, mal eben auf dem Stuhl liegen, weil pis-
sen ohne Knarre logischerweise einfacher ist.
Voll Shocking! Nach deiner Rückkehr glotzen dich alle wie blö-
de an...Na, der traut sich was, tuscheln die Leute.
Und ob der sich was traut, Ihr Schisser! Meist verziehn sich die
Leute, bevor das Bierglas geleert ist. Schisser, die - sag ich doch.
Tja, mit so ´nem Ding biste wer...
Jetzt ist erstmal Ebbe mit so starken Gefühlen. Das gefährli-
che Teil ist in den Händen einer ebenso gefährlichen Spezies-
nämlich: Frau. Und ich hab das starke Scheissgefühl, je länger
ich drüber nachdenk’...!
Das Telefon klingelt.
Ulf zuckt zusammen. Die Rettung! - vielleicht.
Elke kratzt das nicht. Sie rührt sich keinen Millimeter vom
Fleck. Nichts und niemand holt sie aus der Eisstarre - jetzt
nicht, später nicht - das wird immer deutlicher. Ulfs Leben
hängt am seidenen Faden. Er wagt den letzten Versuch.
> Soll ich rangehn? <
Sachte hebt er einen Arm, sagt einen Gang schärfer:> Hör zu,
Elke...<
Ist lange her, daß er sie mit Namen ansprach.
> Ich werd’ jetzt den Hörer abnehmen, Elke. Und wenn ich das
tue, kannst du mir dabei zusehn, okay? Ist das rein akustisch
bei dir angekommen? <
Er kann seinen Frust kaum bändigen, zwingt ihn aber noch-
mals nieder.
> Keine linken Dinger, versprochen. Ich nimm nur den Hörer
hoch, sag Tag und Tschüß, dazwischen allerhöchstens einen
Satz, und leg den Hörer wieder hin. Ist das korrekt? <
Keine Antwort.
Sein plötzliches Geschrei ändert nichts.
> Scheisse nochmal, sprech ich Latein, oder was?! Ich quatsch
mir hier sämtliche Zähne locker und du sitzt da wie Ente in
Rente. Kommt mein Gequassel überhaupt noch irgendwo, da
oben, an?!...Ach, drauf geschissen! Mach, was du willst, aber
mach schnell! Knall mich ab, wie den letzten Heuler. Na los,
mach schon! <
Die Wut-Luft ist raus. Angst kommt. Große Angst.
> Schon gut, Kleines. Schon gut. War nicht so gemeint. Bleib
ganz ruhig, ja? Und sprich mit mir. Sag endlich was! Wenn du
gehn willst - geh. Du kannst alles mitnehmen. Dir gehört alles!
Sieh mich an, Elke...Ich wein’ um dich. Hier, meine Tränen,
jede einzelne für dich. Ich wein’ um dich, verstehst du -
nicht um mich. Du bist alles für mich. Ich liebe dich. Ich hasse
mich. Was willst du noch..?! <
Elke grinst ihn an und durch ihn hindurch. Unablässig rinnt
Spucke über ihr Kinn - und Blut - den fast unsichtbaren Hals
hinab, um sich auf der fleckenübersäten Haut, darunter, zu
verlieren. Alles verliert sich - die Liebe, die Hass wurde, die
Schönheit ihres Leibes - verloren - der Glanz, das Leuchten
ihrer Augen - erloschen - die Sanftheit der Stimme; die Tiefe
warmer Gefühle - weg. Da ist nichts mehr - nur Leere; eisige
Leere, die sich nicht mehr mit Wärme füllen kann. Sie sieht
ihn, wie er wirklich ist - raffiniert, falsch, brutal. Er schlägt
sie ohne nennenswerten Grund, sperrt sie ein - da sitzt sie
tage, wochenlang. Sie sind wohlhabend, könnten sich fast je-
den Wunsch leisten - doch sie sitzt im goldenen Käfig, muß
Hundefutter aus Dosen runterschlingen, weil nichts anderes
schlecht genug für sie ist. Er vögelt unterdessen andere Frau-
en, weil es ihm in den Kram passt. Er kettet sie an, wenn er
geht und lacht über ihren körperlichen Zerfall, wenn er wie-
der kommt. Er hat sie so satt, daß er sie loswerden will - auf
die schleichende, unscheinbare Tour.
Einmal sagt er, es gäbe genug Methoden, jemanden verschwin-
den zu lassen.
Sie wehrt sich - anfangs. Er drischt auf sie ein, bis auch der
letzte Widerstand gebrochen ist. Vom Hundefraß kriegt sie
Magengeschwüre und Hautausschläge - die platzen, eitern,
bluten aus; wachsen an anderer Stelle weiter.
Er findet das eklig, aber amüsant findet er es auch.
Gestern schlug er sie so hart, daß er fürchtete, sie atmet nicht
mehr. Mit angewidertem Gesicht kam er ihr ganz nah.
Sie atmete. Irgendwie passte ihm das nicht. Und dann doch: er
hatte beschlossen, daß sie selbst Hand an sich legen soll. Den
Rest besorgst du dir selbst!, trieb er sie an.
Jetzt kann sie nicht mehr - ist genau an dem Punkt angekom-
men, wo sie ist, wie er - kalt; brutal. Woher dieses letzte biss-
chen Kraft kommt, den Scheisskerl abzuknallen, weiß sie nicht.
Sie weiß nur, daß der Mann auf der anderen Tischseite gleich
durchdrehen wird. Und das ist ihr endgültiges Ende. Oder
seins....
Wieder das Telefongebimmel.
Er setzt sich kerzengerade auf.
> Du willst ja nicht kapier´n...Ich geh jetzt ran, und du wirst
mich nicht daran hindern. Wenn noch irgendwo Grips in dei-
ner Birne ist, legst du die Knarre weg - aber mach schnell,
sonst garantier’ ich für nichts! Wenn du tust, was ich dir sage,
vergess ich die Sache. Aber sicher bin ich mir da nicht mehr.
So - ich werd’ jetzt langsam aufstehn. Ganz langsam, siehs-
te...? <
Der Stuhl ratscht.
> Alles in Ordnung, siehste? Alles bestens. Und jetzt geh ich
um den Tisch rum. Kuck...ein Schritt, und nocheiner...<
Elke ist down, doch sie kennt seine Tricks.
Sie spannt den Hahn.
Er zuckt zurück.
Die heisse Mittagssonne kriecht ins Zimmer. Es riecht nach
Schweiss. Etwa eine Stunde ist vergangen. Eine Stunde zuviel...
Die Anspannung explodiert. Ulf lässt sich rückwärts fallen. Zu
spät - die Kugel erwischt ihn am Bauch. Röchelnd kriecht er
unter den Tisch, packt ihre Beine; zerrt daran. Elke stösst ihn
weg. Sie lässt den Revolvergriff mit letzter Wucht in seinen
Schädel krachen, schiebt den eigenen Stuhl rückwärts, damit
er Platz zum Fallen hat. Den Platz soll er haben.
Sein Kopf taumelt. Er taumelt. Dann knallt er hin; lebt, atmet
noch. Elke schlurft einige Schritte umher, lädt wie automati-
siert nach. Sie richtet den Revolver auf den sterbenden Mann -
drückt nicht ab; zögert - hält sich die Waffe schließlich selbst
an die Schläfe.
Nocheinmal geht der Blick ans halboffene Fenster. Was sucht
sie dort? Einen Vogel, der ihr ein Abschiedslied singt?
Sie würde ihn ebenfalls abknallen.
2.
Später wird sie von Kripoleuten abgeholt - vorbei an Gaffern,
runter, auf die Straße, die sie vor Jahren zum letzten Mal betrat,
unter einem Himmel, der ihr noch fremder ist.
Das Verhör kommt nur schleppend in Gang. Elke ist viel zu
unkonzentriert. Andauernd beknabbert sie ihre Fingerkuppen,
bis auch sie bluten. Büschelweise reisst sie sich Haare vom
Kopf. Und als eine harmlose Fliege durch’s Zimmer surrt, er-
schlägt Elke sie. Die Fliege kam ihr zu nah.
> Wasser. Ich hab Durst!, < krächzt sie nach einer Ewigkeit.
Im nächsten Moment schon wieder in sich verloren, nimmt
sie die leblose Fliege hoch. Ihr dünnes, grässliches Kichern
lässt den vernehmenden Polizisten schaudern.
3.
Im Jahr darauf wird Elke wegen Totschlags im minderschwe-
ren Fall zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt.
Sie ist merkwürdig still und in sich gekehrt. Im Gefängnis gilt
sie deswegen als Musterhäftling. Nach Verbüßung von acht-
zehn Monaten wird sie aus der Haft entlassen.
Die ersten Schritte in Freiheit führen sie ans Grab von Ulf
Remmler. Zunächst bespuckt und tritt sie den Stein, der sei-
nen Namen trägt.
Doch dann fällt sie weinend vor ihm hin und bittet den Toten
um Verzeihung.
Einige Wochen danach verliebt sich Elke in einen Mann, der
Ulf Remmler in Art und Aussehen fast aufs Haar genau gleicht.
Sie ist glücklich. Es ist Sommer. Dieser herrliche Sommer lässt
sie alles vergessen.
Spätsommer.
Er schlägt sie zum ersten Mal.
(c) Ralph Bruse
Die Mühle
Nummer Siebenundzwanzig!, schallt es durch den Warteraum.
Der Mann neben der Eingangstür zuckt zusammen, als würde
man ihn anhand der Nummer als Mörder identifizieren. Er
schlurft zum Schalter. Sein Gang wirkt unsicher, doch das
Lächeln der alten Dame, hinter dem Schalter, ist vertrauenser-
weckend.
> Na, Smatt, was haben wir denn heut’ mitgebracht?, < ruft sie
so laut, daß es jeder hören kann.
> Nur den hier, < brummt Smatt. Er schiebt einen Pelzmantel
in die Schalterluke. > Viel hab ich ja nicht mehr, < fügt er
schnell hinzu, um einen ordentlichen Pfandpreis rauszuschla-
gen. > Mach mir ein gutes Angebot, ja? <
Seine Stimme nimmt einen wehleidigen Klang an. > Du bist
‘ne Perle, das weiß hier jeder. Und meine Arbeit als Nachtpor-
tier bringt gerade mal soviel ein, daß es für die Miete reicht.
Für’s Essen bleibt da nicht viel. <
Er streicht ihr zaghaft über die schrumplige Hand. Sie hält
inne, macht sich dann aber weiter im Innenteil des Mantels
zu schaffen - prüft seine Unversehrtheit; die Qualität.
An Smatts´ Wimpern kleben Tränen. > Sei ein gutes Mädchen,
Klara...<
Sie ist verlegen. Einerseits mag sie den zerlumpten Alten. Bei-
de wohnen in derselben Straße. Smatt grüßt - ganz Kavalier -
stets mit gezogenem Hut und knapper Verbeugung. Er ist im-
mer zu einem Schwatz aufgelegt und offenbar nur selten, oder
nie schlechter Laune. Ein netter Kerl.
Andererseits gibt es hunderte, armer Leute im Viertel, die ihr
letztes Hab und Gut ins Pfandhaus bringen, um über die Run-
den zu kommen. Tränen fließen hier alle naselang. Oft landen
relativ kostbare Erinnerungsstücke auf dem Tisch des Taxa-
tors; aber auch Dinge, die eher ideellen als materiellen Wert
besitzen. Und meist gehn die Leute denn auch mit schlech-
tem Gewissen und einem kläglichen Taschengeld wieder ih-
rer Wege.
Es ist nicht leicht, die ständige, bedrückende Stimmung in der
Pfandleihe auszuhalten. Klara muß sich immer wieder zusam-
mennehmen, um vor lauter Mitleid nicht selbst loszuheulen.
Meistens sind die Leute wirklich bettelarm - und wenn nicht,
dann handelt es sich bei den angebotenen Waren um Diebes-
gut, bei dem es eher aussichtslos ist, nachzuforschen, wem
es gehört. Schwarze Schafe erkennt man dennoch - schon al-
lein daran, daß die Auszahlung eilt. Die werden abgewiesen;
kommen auch nicht wieder, weil Fragen nach der Herkunft
nerven, oder schlicht und einfach: weil die Ware zu heiss
wird.
Übrig bleiben schließlich diejenigen, die tatsächlich schlecht
dran sind - so wie Smatt, der sich gerade mit dem Handrüc-
ken Schweiss von der Stirn wischt.
Klara blickt in seine dunklen, scheinbar unergründlichen Au-
gen. Sie räuspert sich; will eine gewisse Strenge wahren.
> Das ist Kaninchen, Smatt. Wenn ich den Mantel unser’m Ta-
xator vorlege, springen nicht mal fünfzig Euro für Dich dabei
raus. Kaninchen will keiner. Nerz ist angesagt. Fuchs - oder
Wolfsfell gehn grade noch. Aber Kaninchen? Nee, den gibts
nur zum Spottpreis. <
Sie überlegt angestrengt, prüft nochmal die Armlänge des
Kleidungsstücks, nimmt sich das Etikett am Kragen vor; be-
schnuppert, zwickt das weisse Fell; flüstert unverständlich
vor sich hin, erhebt sich vom Stuhl, schlüpft in den Mantel -
stellt fest, daß er wie angegossen passt, und sagt endlich:
> Ich nehm ihn für mich, einverstanden? <
Daß Mitarbeiter des Pfandhauses etwas für sich selbst erste-
hen, kommt selten genug vor. So guckt Smatt denn auch ziem-
lich verdattert; lächelt scheu - nickt.
Klara betrachtet sich im goldrandigen Wandspiegel, zur Lin-
ken, den vorhin jemand da gelassen hat. Hüftschwung links.
Andere Seite. Ihr sanftes Lachen ist das eines rettenden En-
gels, sagt sich Smatt. Und laut sagt er: > Siehst toll darin aus.
Superschick, ehrlich! <
Diesmal meint er es auch so. Vergessen, die Gedanken an ei-
nen ebenso tollen Preis. Das schnöde Geld ist ihm jetzt völlig
schnuppe. Er ist hin - und weg von Klaras’ purer Eleganz,
drum will er seiner Freude Luft machen.
> Dörie hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, wenn eine
Frau wie Du das gute Stück weiter in Ehren hält. Dörie wär
ganz sicher froh drüber...! <
Das hätte er besser nicht gesagt.
Sofort dreht sich Klaras´ Sonntagslaune ins Gegenteil - er
spürt es deutlich. Ihr Lachen ist weg; die streichelnden Hände
lassen vom Mantel ab; sie zieht ihn aus, legt ihn zur Seite, wie
etwas, das ihr die Luft zum Atmen nimmt. Immerhin versucht
sie abermals zu lächeln, aber es will nicht gelingen. Sie nimmt
auf dem Drehstuhl Platz.
> Ich geb dir hundert dafür, einverstanden?,< sagt sie beinah
lustlos. Das ist mehr, als Smatt erwarten durfte, also willigt
er ein. Sie zählt das Geld vor; reicht es ihm zu; fühlt sich un-
wohl in ihrer Haut - schon wissend, daß sie den Mantel kein
zweites Mal tragen wird - den Mantel einer Toten! Kalt wird
ihr. Ganz kalt.
Smatt zieht sich mit einem leisen > Danke < vom Schalter zu-
rück. Er schlappt geradewegs zur Tür raus, ohne sich nochmal
umzusehen.
Klara fängt sich wieder; ruft die nächste Nummer auf. Ihre
Stimme ist brüchig; die Laune auf dem Tiefpunkt. Sie rückt
die Brille zurecht; gibt sich betont sachlich und unnahbar.
> Schmuck? Welchen Schmuck?...Zeigen Sie mal her...Silber?
Nee, Silber nehmen wir nicht an. Und Besteck schon garnicht.
Gold. Haben Sie Gold?...Nicht? Dann kann ich Ihnen nicht wei-
terhelfen. Packen Sie das Silber wieder ein. Sehn Sie sich nur
die Flecken, hier auf dem Löffel, an! Herrje, das geht wirklich
nicht, Verehrteste. Oder hier..! Ist ja völlig verdreckt, das Be-
steck! <
Sie stampft auf.
> Bei bestem Willen - ich kann Ihnen nicht helfen. Wieder-
sehn! <
Der nächste Kunde muß warten. Klara springt auf; flitzt in
Richtung Klosett; pinkelt; erfrischt sich. Nebenan warten Leu-
te. Die warten immer. Der Treck armer Teufel reisst nie ab.
Klara lässt sich durch eine Kollegin vertreten; stolpert zur Hin-
tertür raus, ins Freie. Frische Luft tut gut, doch in ihrem In-
nern tobt noch immer die Unruhe von vorhin. Die erfasste sie,
als dieser Smatt das Pfandhaus verließ - eigentlich schon frü-
her; nämlich, als er sagte...
> Ach, vergiss es. Jedenfalls hab ich mir von dem Kerl olle
Plünnen andrehn lassen, die ich genausogut in den Müll
schmeißen könnte!...Und was, bitteschön, mach ich jetzt damit?
Ich schlepp´ den Mantel auch noch munter durch die Gegend! <
Mit sich selbst redend, erreicht sie ihr Zuhause. Unten, gleich
neben der Tür, stehn die Mülltonnen. Letzte Gelegenheit, sich
der ungeliebten Last zu entledigen.
> Nix da. Hab schließlich ‘n Hunderter dafür ausgegeben..! <
Keine Selbstvorwürfe mehr. Helle Freude aber auch nicht.
Treppen rauf.
Oben angekommen, wirft sie den Mantel wie eine ansteckende
Kankheit von sich, um ihn erst Stunden später aus dem hin-
tersten Eck hervorzuholen. In dieser Zeitspanne lässt sie das
Kleidungsstück nicht etwa achtlos aus den Augen. Nein, sie
fixiert es, als wär es ein schlafendes Tier, das jeden Augen-
blick erwacht.
Natürlich regt sich das Pelzbündel nicht. Warum sollte es
auch? Etwa, weil sie es unablässig anstarrt?
Da kommt plötzlich dieser schwache Instinkt in Klara auf; ein
noch schwächeres Gefühl, daß da mehr ist, als der lächerliche
Nachlass einer Verstorbenen...Es ist nur ein unbestimmtes
Drängen, ein Ahnen und der Zwang, genauer hinsehen zu
müssen, um Licht ins Dunkel zu bringen... Er hat nie von einer,
seiner Frau erzählt. Je länger sie darüber nachdachte, desto
deutlicher wurde, daß er auch sonst wenig von sich preisgibt.
Nachtportier sei er, und er wohnt in dieser Straße; noch nicht
sehr lange - soviel weiß sie. Mehr nicht. Und heute kommt der
Kerl in die Pfandleihe, jubelt ihr einen Mantel seiner verstor-
benen Frau unter...Wie hieß sie noch?...Dörie.
Der Mantel. Döries Mantel...Sie starrt ins Eck, ist wütend - und
weiß im Grunde nicht, warum. Jedenfalls nicht, weil sie sich
übertölpeln ließ. Nicht mehr...Da ist noch etwas völlig Ande-
res...Ein winziger Verdacht - und Angst, der Verdacht könne
anwachsen...Wie kalter Regen breitet sich die Angst im In-
nern aus; raubt ihr Ruhe, die sie dringender, denn je braucht.
Sie zwingt sich, alle Ahnungen abzustreifen; will sie endlich
loswerden - doch wieder eilen die Blicke ins Eck, wo der
- übrigens grottenhässliche! - aus purem Mitleid gekaufte
Karnickelmantel liegt.
Sie löst Schlaftabletten in Wasser auf. Vier auf einmal.
Die kommende, unruhige Nacht nimmt sie zu sich.
Als Klara am andern Morgen zur Arbeit läuft, muß sie mehr-
mals stoppen, weil heftige Schmerzschübe in ihrem Kopf um-
herjagen.
Sie taumelt benommen weiter. Die Arbeit verrichtet sie mehr
oder weniger automatisch. Und sie muß sich währenddessen
eingestehen, daß die Kopfschmerzen mit den quälenden Ge-
danken an den verflixten, weissen Mantel einhergehen, der
- mit leichter Verspätung - nun doch im Kleiderschrank die
letzte Ruhe fand.
> Jesses! Ist doch nur ein Mantel wie jeder andere - nur daß
die frühere Besitzerin tot ist - genau wie die vielen, kleinen Ka-
ninchen, die dafür herhalten mußten. Tot. Aus. Basta! Ist nicht
zu ändern. Und überhaupt - was kümmerts mich! <
Das ist wohl der Punkt...alles scheint relativ zu sein - unwirk-
lich...
Die knapp wiedergewonnene Sicherheit löst sich auf.
Eine Stimme; irgendeine unsichtbare Hand tippt sie an; zieht
sie fort. Lauter flüchtige Gedanken und Ahnungen treiben
üble Spiele mit ihr. Die Stimme; zunächst flüchtig; erstarkt.
Und sie folgt der Stimme; folgt allem Drängen; dem Zug kräfti-
ger Hände - in übermächtiger Suche nach Wahrheit.
Als gegen sechzehn Uhr endlich die Tür des Pfandhauses hin-
ter ihr zufällt, ist ihr, als würde der Leibhaftige sie vor sich
hertreiben...Sie rennt so schnell, wie ihr Alter es gerade noch
zulässt, die Straßen lang, ringt immer wieder um Luft; hetzt
weiter. Sie verliert einen Schuh. Egal, weiter! Die Beine eiern;
brennen wie Feuer. > Jetzt bloß nicht schlapp machen!, < japst
sie. Das hilft.
Völlig außer Puste, erreicht sie ihr Zuhause. Treppen hoch,
Tür auf, den Flur lang; ins Schlafzimmer - der Schrank...Sie
reisst die Tür auf, zerrt den Pelzmantel raus, durchwühlt mit
flinker Hand die Taschen - auch innen. Sie weiß nicht, warum -
ahnt aber, wo sie zuerst hingreifen muß - in die Brusttasche.
Ein Stück Papier kommt zum Vorschein. Ein Zettel - zusam-
mengeknüllt - vielleicht um in die richtigen Hände zu gelan-
gen, ohne daß der Überbringer des Mantels es bemerkt.
Eine unterbrochene Schrift; offenbar in aller Eile hingekritzelt.
Er ist verrückt. HILFE! Bitte helft mir!!!
Die Frau. Seine Frau...! Sie ist in Gefahr. In Lebensgefahr...!
Klara fackelt nicht lange. Ihr Atem pfeift mehr als bedroh-
lich, doch das ist jetzt nicht so wichtig. Sie hastet die Treppen
runter; stürmt ins Freie.
Wo wohnt der Mistkerl? Wo, zum Teufel, verkriecht sich dieser
Smatt, dessen Nachname ihr nicht einfallen will?!
Die Straße langrennen; vor jeder Tür stoppen, in der Hoff-
nung, sein Nachname wird ihr wieder einfallen, sobald sie ihn
nur irgendwo liest.
Treffer!...Da steht der Name...Michels. Smatt Michels. Nichts
wie rein..! Sie muß sich am Flurgeländer stützen, weil plötz-
lich Armeen von Sternen vor ihren Augen tanzen. Ihre stark
geschwollenen Beine wollen pardu nicht mehr; knicken weg,
wie Halme. Die Puste wird noch knapper. Ehe sie zusammen-
sackt und tiefste Schwärze im Kopf aufzieht, hört sie Schritte,
die sich von oben nähern. Schlurfende Schritte.
Dann verliert sie das Bewusstsein.
2.
> Was für schöne Haare Du hast, < sagt eine Stimme. > Weich
und seidig....<
Jemand berührt Klaras’ Stirn. Ihre Lider flattern. Dann öffnen
sich die Augen, darunter.
Sie starrt in die eigenartig verzerrte Fratze eines Scheusals.
Schreien will sie - doch die Pranke des Mannes erstickt den
Schrei schon im Ansatz. Sein spuckeregnender Mund kommt
ihrem ganz nah.
> Wenn Du schreist, macht mich das immer ganz wütend,
weißt Du. Dörie hat auch immer wie am Spieß geschrien. Des-
halb hab ich sie ruhig gemacht...<
Sein gurgeliges Lachen ist fern aller Klarheit - grässlich, absto-
ßend.
> Du hast den Zettel gefunden, nicht wahr? <
Seine Hand versperrt ihren Mund.
> Du kannst mit deinen Augen sprechen...<
Klara schließt die Augen; öffnet sie wieder.
Er versteht.
> Das ist gut. Ich wollte, daß Du die Nachricht findest. <
Sein übler Atem dampft in der Kühle des ungeheizten Zim-
mers.
> Du bist nicht wie Dörie...Dich mochte ich schon immer. Es
gab nicht viele Möglichkeiten, Dich zu sehen; außer der, Dir
Döries’ Schmuck und all die andern Sachen ins Pfandhaus zu
bringen. Du bist wie ein Lichtschimmer in meinem Dunkel.
Vielleicht hast Du garnicht gemerkt, daß ich mehr, als nur Dö-
ries’ Nachlass für Dich hab. Viel mehr..! Aber jetzt bist Du ja
für immer bei mir...<
Das Zittern der alten Dame bleibt ihm nicht verborgen. Seine
Stimme wird sanft, fast zärtlich, und so hell, wie die eines Kin-
des. > Du mußt keine Angst haben...Ich werde Dich beschüt-
zen, wie einen kranken Vogel. Wir haben hier viel Platz, um zu
spielen...<
In seinen Augen schimmert es feucht.
> Als mein Papa noch da war, hab ich immer in der Mühle ge-
spielt, weißt Du...Ich hab zugesehn, wie er die vielen Getreide-
körner zu Mehl zerkleinert hat. Und einmal - aber das war
später - kam da so komisches Mehl aus dem Sieb - gelblich
und garnicht schön weiss...Irgendwie anders jedenfalls. Und
am selben Tag war meine Mutti weg. Papa sagte, daß sie mit
einem andern Mann abgehaun ist, und daß sie nie mehr wie-
derkommt...Ich hab das erst nicht geglaubt, weil Mutti mich
ganz doll liebhatte. Aber dann kam sie wirklich nicht mehr.
Papa hat das gelbe Mehl nicht in Säcke gefüllt, sondern den
Schweinen zu Fressen gegeben...Manchmal hat Papa auch
Holz in die scharfen Zahnräder der Mühle geworfen - nur so
aus Spaß. Oder Tierknochen. Die kamen denn alle als Mehl,
unten, im Trichtersieb, wieder raus. Nur eben gelbes Mehl. <
Er seufzte gedankenverloren.
> Ohne meine Mutti war es nicht mehr so schön, da, in unse-
rer Mühle. Und Papa ist ja auch schon lange tot. <
Seine Augen weiten sich.
> Aber die Mühle gibts noch! Da können wir jetzt immer hin,
wenn wir woll´n! Dörie war auch oft da...Bis sie gesagt hat, daß
sie von mir weggehn will, weil sie einen andern Freund hat.
Einmal sind wir doch noch zur Mühle rausgefahrn - und Dörie
war dann auch weg. Ich hab das gelbe Mehl dann in den Bach,
vor der Mühle, gestreut...<
Er zieht die Hand zurück, sackt wie ein Häufchen Elend in sich
zusammen.
Klara nimmt allen Mut zusammen; streicht dem alten Mann
über’s kahle, schweissnasse Haupt; blickt um sich...Die Tür
nach draußen ist nur angelehnt. Im richtigen Moment könnte
sie fast mühelos fliehen - weg von hier.
Renn, los! Renn um dein Leben! Na los, wirds bald!
Sie spürt, daß die größte Gefahr nun nicht mehr ihr gilt, son-
dern dem Mann - ja, ihm. Der hockt auf dem kalten Dielenbo-
den, bejammert sein verkorkstes Dasein und kommt nicht mehr
raus, aus der Falle, aus dem Trauma, in das er fiel.
Mitgefühl? Verständnis? Nein, das ist es nicht allein, was sie
hierhält. Was also ist der Grund, zu bleiben?
Die Antwort? Keine. Nur Leere. Hilfloses Ringen um das biss-
chen Leben eines Scheusals.
Lauf, so lang’ du noch kannst...!
Sie bleibt.
3.
Smatt kommt aus einer anderen in die wirkliche Welt zurück.
> Weißt Du, < durchbricht er die laute Stille. > Weißt Du,
manchmal kann ich tatsächlich fliegen. Von hier oben sind es
nur dreißig Meter bis zur Straße. Die kann ich fliegen! <
Er springt auf - und ans Fenster.
Eh sie begreift, steht er schon weit vornübergebeugt auf dem
Außenbrett. Sein Gesicht glüht.
> Du kannst auch fliegen!, < schreit er freudesprühend gegen
den Straßenlärm an. > Wir alle können fliegen, wenn wir frei
sein wollen! <
Klara eilt ans Fenster; zerrt an seiner Hose. Sie weiß, daß ihre
Kraft im Ernstfall nicht reichen wird. Und das hier ist bitter-
ernst! Völlig irrwitzige Worte kommen ihr über die Lippen -
Sätze, die ihn auf diese Seite des Fensters holen sollen; Worte
wie: > Das lohnt doch nicht, Smatt. Man fliegt höchstens zwei
Sekunden lang. Allerhöchstens drei..! <
> Du lügst!,< schreit er. In seinen dunklen Augen nistet schon
der Glanz ewigen Abschieds.
> Ich kann länger fliegen! Viel, viel länger!! <
Er reisst sich los, springt mit weitgeöffneten Armen und Augen
ins Leere. Dreißig Meter fliegt er steil abwärts.
Nach drei Sekunden ist alles vorbei.
(c) Ralph Bruse
veröffentlicht im Erzählband PSYCHONYMOUS, chili-Verlag; Verl
ISBN: 978-3-943292-26-8
Zimmer 5
Der Stuhl knarrt.
Im Radio läuft Klassisches.
Draußen plappert der Regen.
Robert rutscht der Kopf tiefer, in die aufgestützten Hände.
> Nicht viel los. <
Er gähnt, zählt die stummen Vögel an der Tapete gegenüber,
schmatzt mit leerem Mund.
Als die Vögel zu fliegen anfangen, zuckt er zusammen, beru-
higt sich aber gleich wieder. Die Müdigkeit gaukelt ihm Trug-
bilder vor. Ehe sie Oberhand gewinnt, streckt sich der Alte,
daß es knackt.
Ablenken. Zigarre raus. Anstecken. Tief inhalieren. Hustenat-
tacke.
> Scheisstobak! <
Gewohnter Blick durch den Rauch, in den langen Gang, an den
sich acht Zimmer reihen. Vier auf jeder Seite. Nur eins der Zim-
mer ist belegt. Das, vorne links. Braune Schuhe stehen davor.
Riesige Quadratlatschen. Größe 48. Mindestens.
Robert grinst schief vor sich hin. Die Billigzigarre verschwindet
zwischen seinen Lippen. Er trommelt auf Holz, rafft sich auf,
um seinen Rundgang zu machen.
Drei Flure durchstreift er. Und erst jetzt wird ihm wirklich be-
wusst, daß in dem maroden Bau gerade mal zwei Leute hau-
sen. Er, und der Mann in Zimmer 5. Das muß nichts Schlech-
tes bedeuten, aber Gutes wohl auch nicht. Selbst der einsamste
Mensch fügt sich letztendlich seinem Schicksal.
Trotzdem beschleicht Robert an solchen Abenden immer ein
undefinierbares, frostiges Gefühl. Zwar ist es bulligwarm in
der Bude, doch das leichte Frieren seiner Glieder verschwin-
det davon nicht. Im übersteigerten Sinne könnte man die er-
wähnten Frostanwandlungen auch als beginnende Gewissens-
konflikte bezeichnen - dazu später mehr.
Zunächst ist sich der Alte nur im Klaren, daß es weißgott kei-
nen großen Spaß macht, ein fast menschenleeres Haus zu hü-
ten. Außerdem wird der Kampf gegen Schlafattacken, wie
vorhin, immer aussichtsloser. Und dann noch das düstre Schiet-
wetter, da draußen - zum Weglaufen!
Naja, schließlich haben wir November. Da kann man die Hoff-
nung auf bessere Zeiten vorerst begraben.
Seine Schritte hallen, trotz der dicken Teppiche in den Flu-
ren. Heute fällt ihm dieses Echo zum ersten Mal auf. Was ihm
auch auffällt ist, daß plötzlich die Schuhe vor Zimmer 5 ver-
schwunden sind. Er hat seinen Rundgang beendet, schenkt
sich gerade einen Becher Kaffee aus der Thermoskanne ein,
schlürft daran, peilt eher flüchtig den Flur lang - und da sieht
er die Quadratlatschen nicht mehr... Beinah wär ihm der Kaf-
fee aus dem Becher gesprungen... Jedenfalls zittern ihm die
Hände und die obere Zahnreihe beisst die Unterlippe blutig.
Natürlich sind diese Reflexe kein besonderer Anlass zur Beun-
ruhigung. Schließlich ist man ja reinen Gewissens. Schuhe, die
nicht mehr am alten Platz stehn, bringen garantiert nieman-
den um den Verstand. Der Besitzer wird sie geschnürt haben,
um in der Nähe einen drauf zu machen.
Dagegen gibt es rein garnichts einzuwenden. Nur: wo geht
jemand gegen neun Uhr abends hin - bei dem Mistwetter, in
der gottverlassenen Einöde...? Hier gibt es nur die eine Straße,
keine Kneipe, kein Shop, kein Kino, nichts. Tote Hose. Hier
ist absolut nichts Tröstliches - nur das abrissreife Motel und
ansonsten leere Straße. Heulendes Elend am Arsch der Welt.
In Anbetracht besagter Tatsachen kann man eventuell ver-
stehen, daß verschwundene Schuhe also durchaus doch Aus-
löser mittelschwerer Unruhe sein können. Gestützt wird diese
Unruhe von dem dringenden Verdacht, daß der Mann von
Zimmer 5 irgendwo im Haus rumschleicht...Merkwürdig war
der Kerl ja schon immer - schließt sich dauernd ein, redet
kaum, grüßt nur bei guter Laune und hinterlässt stets das Ge-
fühl, daß alle Leute Dreck sind, und er was Besseres.
Geschlagene zwei Tage hat sich der Typ nun nicht mehr au-
ßerhalb seines Kabuffs blicken lassen. Zwei Tage - und jetzt
sind die Botten weg..! Soviele Ungereimtheiten steigern Ro-
berts Nervosität ins Unerträgliche! Kein Wunder, daß er den
Kaffeebecher schnellstens von sich schiebt, um der Sache auf
den Grund zu gehn.
Siebenundzwanzig Schritte. Dann klopft er an die Tür.
> Alles in Ordnung da drin? <
Sein rechtes Ohr rutscht über glattes Holz, versucht einen
Laut wahrzunehmen, irgendein klitzekleines Geräusch... Doch
jenseits der Tür bleibt es still, wie im Bauch einer toten Kuh.
In der zwielichten Gegend würde unsereiner wahrscheinlich
auch keinem öffnen, denkt sich Robert. Da müßte schon was
Schlimmes sein...Zimmer unter Wasser, Heizung kaputt, oder
so, in der Art.
Kalte Bude im Spätherbst - kein schlechter Anlass zur Sorge -
drum ruft er: > Ist Ihnen zu kalt da drin? Wir haben nämlich
Probleme mit unserm Heizungsverteiler! <
Erneutes Klopfen, und dieselbe Antwort: keine.
Robert würgt es im Hals. > Der muß doch da sein. Gibts doch
garnicht. Wenn der raus wär, hätt’ er am Empfang vorbei müs-
sen. Unmöglich, daß ich den übersehn hab..! <
Der Tatterich packt ihn mit voller Wucht.
Und noch etwas packt ihn plötzlich im Nacken...Eine Hand! Die
Stimme hinter der Hand brüllt ihn ziemlich unwirsch an!
Sofort weiß er, zu wem das Gebrüll passt. Zum Fremden. Viel-
leicht täuscht er sich auch. Jedenfalls ist die Stimme überall
da, wo er nicht hinsehen kann. Das erzeugt Panik! Sein Hinter-
mann will offenbar unerkannt bleiben, zeigt sein Gesicht nicht
und brutal hinlangen kann er auch...Aber immerhin ist Robert
in Gesellschaft, soviel ist mal klar. Ein schwacher Trost - denn
die Gesellschaft des Angreifers ist glasklar böser Absicht - der
Kerl trachtet ihm nach Leib und Leben!
Robert versucht ein Lächeln; ein schwaches Lächeln, das viel
Mühe kostet. Ein Lächeln zur richtigen Zeit hat ja schon man-
chem die Hölle erspart. Aber wie, zum Teufel, entwaffnend lä-
cheln, wenn starke Hände die kleinste Regung abwürgen...?!
Die Nase platt an der Tür, das verknautschte Gesicht feuer-
rot, und hinter ihm der brutale Scheisskerl...Der ist offenbar
aufs Schlimmste aus - also vergeht Robert das Lächeln wieder.
Die Tür kracht schließlich unter großem Druck auf. Ihm ist,
als würde sein Schädel gleich wie eine Nuss mittlings brechen.
Er japst nach Luft; stellt zwar erleichtert fest, daß der Kopf
noch dran ist, doch dafür starrt er nun geradewegs ins Maul
der übelstinkenden Höhle - sprich: Zimmer.
Der Fremde hat ihn noch im Schwitzkasten. Der ist sauer, weil
Robert an seiner Tür gelauscht hat - na klar. Aber was ist das
da für eine Gestalt im Zimmer? Wer liegt da reglos am Boden?
Ein Mann? Der Fremde doch wohl nicht...? Und wer zwingt ihn
mit übermächtiger Kraft, hinzusehen?
Kein Licht im Raum. Nur ein diffuser Schimmer, der sich spär-
lich vergrößert. Robert zuckt zusammen. Stürzt im gleichen
Augenblick nach vorn. Der Angreifer hat seinen Griff gelöst,
flieht, knallt die Tür zu und schließt von außen zu. Robert hört
Schritte, die sich entfernen. Seine Hände tasten umher. Berüh-
ren die Gestalt. In seinem schmerzenden Kopf klart es auf. Er
starrt in ein bekanntes Gesicht - und will nicht glauben, was
er sieht...Kein Fremder - nie und nimmer! Der Mann ist....
Robert erkennt einen kahlen Schädel, mit einem weit klaffen-
den Riss, darin. Der Mann ist furchtbar zugerichtet. Blutüber-
strömt. Dicht daneben blitzt die Klinge einer Axt.
Heftig zitternd drückt er dem Toten die weitaufgerissenen Au-
gen zu, weint leise, wie um einen Bruder. Mehrmals versucht
er, wieder auf die Beine zu kommen. Der vierte Versuch ge-
lingt endlich. Er hetzt zur Tür, zerrt am Griff.
Verriegelt. Sie haben ihn eingesperrt, um ihn später zu holen.
Wer sind sie?
Was wollen sie? Geld? Alle wollen Geld. Knapp hundert sind
im Spind. Holt es und haut ab, ihr Schweine!, zischt er benom-
men.
Von draußen Motorenlärm. Aufgeregte Stimmen im Gang und
Schritte, die sich der Tür nähern. Er sackt auf die Knie. Kriecht
ins hinterste Zimmereck. Stammelt. Fleht.
Die Tür fliegt auf. Jemand sucht den Lichtschalter. Findet ihn,
knipst daran - nichts. Trotzdem kein pardon. Zwei Gestalten
packen ihn, schleifen ihn raus; stopfen ihn draußen ins Auto.
Nach etwa einer Stunde Fahrt werfen sie ihn in eine Zelle.
Endstation. Aber er lebt.
Den Rest der Nacht rennt er im Kreis rum.
Bei Tagesanbruch holen sie ihn zum Verhör. Er schwört, daß
er keine Schuld am Tod des Mannes hat. Die Leute von der
Polizei glauben ihm kein Wort; beschimpfen ihn gar als ‘schi-
zoiden Knallkopf’. Wer, wenn nicht er, soll der Mörder des
Toten in Zimmer 5 sein? Der Mörder des eigenen Bruders...
Robert kann nicht glauben, was er hört. Er schnappt nach
Luft, springt auf, schreit, schreit immerzu - bevor ihn die to-
tale Erinnerung überschwemmt. Er muß glauben, weil es ein
Teil der Wahrheit ist.
Er trägt immer noch die braunen Schuhe, die ihm mindestens
drei Nummern zu groß sind. Schlecht für ihn. Außerdem fin-
den die Bullen keine nennenswerten Einbruchspuren im Mo-
tel. Es kommt noch schlimmer: Zimmer 5 hat offenbar seit
längerer Zeit kein Fremder betreten, mit Ausnahme des Bru-
ders. Andere Fußspuren gibt es kaum - einige wenige, ja, aber
die sind nicht verwertbar. Klar ist lediglich, daß der Bruder in
Zimmer 5 hauste, und daß er brutal ermordet wurde.
Fetzen aus Erinnerungen geistern durch Roberts Kopf. Mal
sind sie da - greifbar nah, wie jetzt.... Eigentlich gab es nie
Streit zwischen ihnen - viel Liebe aber auch nicht. Man warte-
te auf Gäste, auf bessere Tage; wartete und wartete. Doch bes-
sere Tage kamen nicht. Stattdessen kam die große Einsamkeit
herein und legte sich schwer auf alles - auch ins Gemüt.
Sie schlichen durchs Haus, die zwei alten Männer - jeder für
sich allein - und dann, neulich abend, in Zimmer 5, passierte
es ohne jede Vorwarnung, ohne Sinn und Verstand - sie gingen
aufeinander los, die zwei Brüder. Bekämpften die bleierne Gra-
besstille, da draußen. Ja, sie gerieten aneinander...Aber töten?
Für einen Mord, für den Tod eines Menschen, fand sich bei aller
Wahrheitssuche kein Platz in Roberts Erinnerung - nicht der
kleinste Fixpunkt. Er hat seinen Bruder nicht getötet. Nie und
nimmer!
Sie reden noch oft darüber - Robert und der tote Bruder. Wäh-
rend der eine für immer schweigt, weint der andere hin - und
wieder.
Im Untersuchungsgefängnis weiß niemand, was wirklich in dem
Gefangenen vorgeht, der mit sich selbst spricht.
Erst ganz zum Schluss - wenige Tage vor Prozessbeginn, ist Ro-
bert mit sich im Reinen. Er wird freikommen. Wird frei sein,
auch wenn man ihn verurteilt. Der Strick, den er aus Bettzeug
geschnürt hat, hängt schon im Eisenkreuz des Fensters.
Doch plötzlich hat er Angst vor dem Freisein....
2.
Wochen später meldet sich ein jüngerer, ziemlich abgerisse-
ner Mann auf der Wache. Er gibt zu Protokoll, die Bluttat beob-
achtet zu haben; erkundigt sich bei der Gelegenheit auch gleich
nach einer angemessenen Belohnung, weil er - zunächst anonym -
Meldung erstattet hat. Er sei zufällig auf das einsam gelegene
Rasthaus gestoßen; wollte nur eine Nacht bleiben und am andern
Morgen weiterfahren.
> Der Alte am Empfang zeigte auf die Schlüssel. Suchen Sie sich
ein’ aus. Zimmer sind ja reichlich, meinte er.
Also nehm ich Nummer 5. Geh den Flur lang. Da stehn schon Schu-
he vorm Zimmer. So braune Riesentreter. Hab geklopft - ‘n paar-
mal - also mach ich die Tür auf. Da liegt einer...Seh ich sofort, daß
der nicht mehr aufsteht. Ich also zurück, zum Empfang, mach den
Alten rund, nehm ihn in den Schwitzkasten und treib ihn vorwärts,
Richtung Zimmer, weil er sich die Sauerei ansehn soll. Der wehrt
sich nicht mal besonders, grinst mich sogar an, als wär er high.
War ziemlich weggetreten, der Typ. Na ja, wär ich auch, wenn ich
einen gekillt hätte...
Hab letzte Woche inner Zeitung gelesen, daß der Alte sich in seiner
Zelle aufknüpfen wollte. Käm ich auch nicht mit klar. Würd’s genau-
so machen - mich aufhängen. Nur: wenn schon, denn richtich, oder?
Na ja, seines Lebens froh wird der sowieso nicht mehr, mit der Last
am Bein...<
Er kommt richtig in Fahrt - redet und redet.
> Der Anruf bei Euch kam, wie gesagt, von mir, daß da draußen
‘ne Leiche liegt. Hab dem Alten vorher noch leicht eins übergezogen,
daß Ihr den gleich mitnehmen könnt...Den eigenen Bruder um die
Ecke bringen - wie krass is’ das denn. Auch noch mit ‘ner Axt.
Mannomann...Hätt’ sich der Alte doch spar’n können, die Schweine-
rei mit dem ganzen Blut. Der andere war sowieso schon todkrank.
Magenkrebs im Endstadium....Hat der selbst gesa...<
An der Stelle kommt sein Redefluss ins Trudeln.
> Na ja... Jedenfalls total unnötig, die Aktion. Wollt ich nur mal gesagt
haben. <
Sein Gegenüber blickt deutlich fester drein. Denn schon nach Ablauf
letzterer Worte deutet sich an, daß die Sachlage eine interessante
Wendung nimmt. Er beugt sich weit vor. Sagt: > Krebs im Endstadi-
um. Soso...In der Zeitung stand davon nichts. Sie müssen hellseheri-
sche Fähigkeiten haben...<
Ein Räuspern des Polizisten, als wolle er Anlauf zu etwas Großem
nehmen.
> Ich rede jetzt mal frei Schnauze, okay? <
> Tun Sie sich keinen Zwang an!, < giftet der merklich bleich gewor-
dene Desperado.
> Also...Sie sind natürlich nur rein zufällig ins Motel geschneit, weil
das so schön idyllisch liegt, richtig? Und der Mann von Zimmer 5 hat
Ihnen mir nix dir nix erzählt, daß er todkrank ist, bevor sein Bruder
ihn mit der Axt erschlägt...Seltsame Geschichte...Also, ich würde
einem Fremden wahrscheinlich nur dann vom bevorstehenden Ende
erzählen, wenn ich im gleichen Augenblick weiß, der Tod steht schon
an der Tür....Da stehn nämlich Sie! Undzwar mit erhobener Axt! Und
der alte Mann kann gerade noch sagen, daß er sowieso bald sterben
wird....<
3.
Noch am gleichen Tag wird Robert entlassen.
Das Angebot, ihn in ein staatliches Pflegeheim zu bringen, nimmt er
wortlos, gleichgültig nickend, an.
Im Heim schlappt er von nun an ständig in den braunen Riesenschuhen
seines Bruders herum. Die zieht er auch nicht aus, wenn es Nacht wird
und wenn er seine Runden im Flur geht.
Zimmer Nummer 5 dieses Hauses bewohnt Evelyn, eine schwerhörige
Dame, die Alzheimer hat - genau wie Robert.
Er mag die zierliche Evelyn auf Anhieb. Sie hat auch nichts dagegen,
daß er die Schuhe irgendwann, frühmorgens, vor ihr Zimmer stellt.
(c) Ralph Bruse
Lydia
Hier fahren am Tag nur noch drei Bummelzüge durch. Mor-
gens, sechs Uhr zwanzig, mittags, dreizehn Uhr zehn und zu
Feierabend, der Siebzehnvierziger.
Der einzige Mann auf dem Bahnsteig blinzelt in die hochste-
hende Sonne. Seine wachsamen Augen scheinen aber auch
gleichzeitig die fette Bahnhofsuhr zu fixieren.
Der Mann wirkt nervös. In seinem Gesicht erkennt man tiefe
Spuren des Alters. Aber da ist noch etwas Anderes.
Das bisschen Haar, das ihm blieb, war mal schwarz. Jetzt ist es
weiss. Ebenso sein wüster Kinnbart.
Die trüben Augen weiten sich.
> Lydia, Liebes, < raunt er selbstvergessen.
Der Zug kommt in Sichtweite.
Gleich wird Lydia aussteigen. Sie werden sich lange umarmen
und dann werden sie Hand an Hand nach Hause schlendern,
so wie immer.
Plötzlich wirkt der Mann zufrieden. Er spuckt in die Hände -
wischt sein spärliches Haar glatt. Das Lächeln zwischen den
bläulich verfärbten Lippen macht sich.
Der Zug fährt ein. Türen öffnen sich. Und schließen. Eine
Handvoll Leute hetzt an dem Alten vorbei.
Lydia fehlt.
Die kurze Zufriedenheit wird von Unruhe gepackt. Hilflos jagt
sein Blick umher. Da ist endlich ein bekanntes Gesicht..! Er
winkt dem Dicken vom Stellwerk zu. Der motzt schon von Wei-
tem: > Frag mich jetzt bloß nicht schon wieder, ob das der Drei-
zehnzehner war, Hans! <
Der Alte nuschelt vor sich hin. Er hat garnicht richtig zugehört.
> War er das, der Dreizehnzehner? <
> Ja, zum Donnerwetter, das war dein Dreizehnzehner!, <
schnauzt sein Gegenüber.
Schließlich besinnt er sich sanfterer Töne; atmet ein paarmal
tief ein und aus, bis die roten Flecken seiner geschwollenen
Halsgegend verschwinden. Eine der schwarzen Pranken landet
auf der Schulter des Alten.
> Schon gut. War nicht so gemeint. <
Er schüttelt den Riesenschädel und mault im Weggehen: > Du
mit deiner Lydia. Mensch, Hans...<
Erst am Abend verlässt der alte Mann den Bahnsteig.
Am nächsten Tag ist er wieder da.
Auch am Übernächsten. Seit Jahren geht das so. Daran ändert
sich nichts, bis zu jenem Tag, im Spätsommer. Da fährt ein an-
derer Schaffner im einrollenden Dreizehnzehner-Zug mit. Ein
sommersprossiger Spund, etwa um die Zwanzig. Hans fällt
diese Neuigkeit sofort auf. Der Bengel sieht fast so aus, wie
er selbst, in frühen Jahren - ein bisschen dünner; ja, und lang
wie ‘ne Latte. Trotzdem - Mütze und Dienstjacke in Dunkel-
blau steh'n ihm gut.
Bevor der junge Lulatsch seine Kelle zur Weiterfahrt hebt, wen-
det er sich freundlich dem Alten zu.
> Sie woll’n doch bestimmt noch mit. Denn aber schnell! <
Hans starrt ihn an - reagiert aber nicht.
Der Junge überlegt, ob er vielleicht noch sagen sollte, wohin
die Fahrt geht - nicht lange - die Worte kommen ihm leicht
über die Lippen.
> Nächster Stopp ist Buchenwald. <
Nichtsahnend stößt er Schleusen auf.
In den Augen des Alten blitzt es. Das Zittern seines Leibes
bricht mit voller Wucht aus. Sein Mund klappt auf, als wolle er
schreien - immerzu schreien.
Dann befreit sich das Schreien endlich!
Der junge Schaffner springt in den Zug. Der schreiende Mann
macht ihm Angst.
Abends.
Der Bahnsteig ist menschenleer. Nur der Alte ist noch da -
schläft sitzend auf einer Bank.
Die Ruhe kommt. Und ein Zug. Sein Zug.
> Lydia..? <
Ihr Lächeln. Er reibt sich die Augen...Sie ist es!
Er rennt. Gegen die Wirklichkeit. Ins Leere. Und doch: in ihre
Arme. Einmal Himmel und zurück.
(c) Ralph Bruse
veröffentlicht in der Textsammlung Frieden ist mehr...
ISBN 978 - 3 - 9814590 - 4 - 3
Lydia ist unter anderem Titel (Am Bahnhof) vertont unter (selbst-)
gesprochene Geschichten auch als Download verfügbar.