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Erinnerungen von Christine
Inhalt:
Mutti, sind wir schon in Bayern?
Der Badeplatz.
Klassenfahrt in den Bayrischen Wald.
Mutti, sind wir schon in Bayern?
Februar 1946:
Über drei Millionen Sudetendeutsche wurden von den Tschechen in Waggons
oder Flüchtlingstrecks in das zerstörte Deutschland ausgesiedelt; ein Rest von
25o.ooo, musste sich der Zwangsarbeit untergeben.
Mutti, Jahrgang 1919, die in die Tschechische Republik hineingeboren wurde,
wuchs durch die Schließung der meisten deutschen öffentlichen Einrichtungen
mit der tschechischen Sprache auf. Sie schrieb mit Hilfe des Winterberger
Ausschusses Gesuche an die Prager Regierung, die eine Ausreise mit Möbel
genehmigen sollte - bis schließlich dem Antrag stattgegeben wurde. Ausschlag-
gebend war ihr bester tschechischer Freund Martinek.
Mutter und das Kind, noch keine fünf Jahre, saßen neben dem tschechischen
Fahrer in dem Fünftonner, während Vater Willi warm eingepackt auf der zugi-
gen Ladefläche hockte, um das Hab und Gut im Auge zu behalten.
HALT an der Tschechisch-Deutschen Grenze. Überall waren Transparente zu
lesen: “Vitame Muscou Armadu“, das erzählte Mutti später, denn als sich die
Amerikaner am 7.Mai 1945 Prag näherten, mussten sie sich hinter der verein-
barten Linie zurückziehen und die Befreiung Prags der Roten Armee überlas-
sen. Nun hieß es: Willkommen die Russische Armee.
Tschechische und russische Grenzer in der Baracke. Aussteigen! Papiere!
Woher - wohin. Beeindruckt von meinem russischen Gedicht, das man mir
eingetrichtert hatte, bis ich es auf dem Schoß eines Russen flüssig aufsagen
konnte, begegneten uns die Sieger über das Nazi - Deutschland mit Wohl-
wollen - bis sich der Schlagbaum öffnete. Vielleicht waren sie auch freund-
lich alkoholisiert. Meine Eltern ließen mich nun während meiner ganzen
Kinderzeit glauben, dass mein Gedicht für die gelungene Ausreise verant-
wortlich war.
Die weißen Binden mit dem aufgedruckten „N“ (Némec = Deutscher) wur-
den sofort in den Schnee geworfen. Nun ließen wir die Tschechen hinter
uns, jedoch auch die Heimat für immer. Ich war noch zu klein, um die Um-
stände zu begreifen, doch die Eltern und die leidgeprüften Menschen, die
den Krieg überlebt hatten, mussten in der Fremde wieder bei Null anfangen.
Deutschland war zerstört und die verbrannte Erde sagte für die Bevölkerung
und die Flüchtlinge aus dem Osten Lebensmittelknappheit voraus. Wohin
mit den zusätzlichen Menschen! Sie wurden in Lager, Bauernhöfe, Schul
räume, Schlösser, Nissenhütten, Zugwaggons, die auf Nebengleisen stan-
den, untergebracht. Zur Not auch in die Häuser der Einheimischen zwangs-
einquartiert, was meistens zur großen Diskrepanz führte.
Elend durchzog das Land. Den meisten Familien fehlte der Ernährer - denn
viele Väter waren gefallen, kriegsversehrt oder noch in Kriegsgefangen-
schaft. Flüchtlingsströme aus dem Osten fanden zunächst nur geduldetes
Obdach - sie fühlten Hunger, den Verlust der Heimat und die Würde. Au-
ßerdem waren sie der Willkür der Einheimischen ausgesetzt. Keine Exis-
tenzaussichten, keine Wohnung, kein Geld, nur ein bisschen Unterstützung,
die erst durch umständliche Anträge auf den Weg gebracht werden musste.
Ich bekam eine kleine Halbwaisenrente durch meinen gefallenen Vater Wal-
ter, während die Witwenrente meiner Mutter durch die zweite Heirat entfiel.
Willi erhielt eine Kriegsversehrtenrente und sonstige Zulagen, die uns über
Wasser hielten.
Der tschechische Fahrer lud also unser Hab und Gut bei einem Bauern ab
und fuhr zurück.
Willi wagte kurz vor Kriegsende einige illegale gefährliche Grenzübertritte
bis er im Nirgendwo einen Bauern fand, der ihm viel Geld für eine Scheune
abnahm, wofür er ihm die Lagerung der Fuhre zusagte, so lange, bis wir ei-
ne Bleibe gefunden hätten. Zunächst fanden wir Schutz in einem Sammel-
lager. Es mag eine Schule oder eine Bahnhofshalle gewesen sein, wo sich
die Heimatlosen fanden. Ich kann mich noch an ein Kanonenöfchen erin-
nern, das ein wenig Wärme spendete. Zu wenig in dem eiskalten Winter
1946. Wir mussten weiter, weiter nach Vilshofen an die Donau, wo ein
Zimmer in einen Gasthaus auf uns wartete, das uns Muttis Freundin Lui-
se angemietet hatte.
Müttergenesungsheim Oberrain in Österreich 1943:
„Wenn euch die Tschechen vertreiben, dann kommt ihr nach Vilshofen.“
Es waren von Haidmühle bis Passau nur circa 6o Kilometer, jedoch eine
Odyssee, die tagelang durch den Schnee führte, weil nichts fuhr, das uns
schneller vorwärts gebracht hätte. Verschneite Einöde weit und breit, Un-
terkünfte für die Nacht im „Ich – weiß – nicht - wo“.
Willi trug einen schweren Koffer, in dem das Nötigste drin war, zu wenig-
aber unsere Füße trugen uns schließlich nach Passau und nach Vilshofen.
Mutti führte mich immer an der Hand; dieser Händedruck, der uns das
ganze Leben geliebt verbunden hat.
Die Gaisbauer-Familie.
„Mutti, sind wir schon in Bayern?“
Ja, wir kamen irgendwann an das Haus an der Donau.
Nach dem überaus herzlichen Empfang der Gaisbauer-Familie (Vater -
Mutter - 8 Kinder), brachte man uns in die Kapuziner Straße, wo wir im
zweiten Stock, rechts vom Treppenaufgang, ein Zimmerchen zugewie-
sen bekamen.
Vom Fenster aus konnte man über die Dächer zur Donau runtersehen,
sogar bis zum Haus unsrer hilfsbereiten Freunde. Der Raum, typisch
Schlafzimmer der zwanziger Jahre, hatte Ehebetten, worüber eine Tel-
lerlampe an einem Stab hing. Da es kein fließendes Wasser im Zimmer
gab, mussten wir es in einem Krug vom Gang holen, um es in die dafür
vorgesehene Waschschüssel zu gießen. Dieses Porzellan stand auf einer
Kommode, Schrank, Tisch und Stühle waren natürlich auch vorhanden
und ein Öfchen zum Beheizen. Kein Kinderbettchen; ich schlief bei
meinen Eltern. Toilette am Gang; vorsorglich standen Nachttöpfe unter
dem Bett.
Die Vilshofener, die nach Kriegsende Angst vor den Russen hatten,
sprengten ihre Donaubrücke, um eine östliche Überschreitung zu ver-
hindern, stattdessen kamen die Amerikaner mit Jeeps und Panzern.
Aus dem Internet: Am 3o. April 1945 überschritt die US-Armee die
Isar und gruppierte ihre Kräfte neu. Der Angriff des 20. US-Armee -
Korps zielte nun auf den Inn zwischen Simbach und Passau. Am ersten
Mai wurde Vilshofen erreicht und das ganze Rottal besetzt. 3000 Sol-
daten der Wlassow- Armee, die auf deutscher Seite gegen Stalin kämpf-
ten, ergaben sich am 30. April in Zwiesel - die USA lieferten sie den
Sowjets aus. Vilshofen ergab sich; weiße Laken hingen aus den Fens-
tern, doch vom Kirchturm herunter fielen noch Schüsse.
Wir kamen also bei den „Scheßls“ in der Kapuzinerstraße unter. Sie
überließen den Amerikanern die Gaststube, die sie in ein Kasino um-
funktionierten. So klang abends moderne amerikanische Swing – Mu-
sik in meine Kinderohren, mit der ich einschlief und wieder aufwachte,
wenn sie zu laut wurde. Ich konnte alles nachsingen: „ In the Mood“ -
Moonlight Serenade – Perfida - Memories of you - Chattanooga Cho
Cho“.
Meine Eltern ließen mich abends oft alleine, wenn sie sich mit den
Sudetendeutschen in Gaststätten trafen, die dasselbe Schicksal mit ih-
nen teilten. Gewusst wie und wohin man sich wenden musste, um die
vorläufige Unterkunft bald wieder verlassen zu können. All das wurde
besprochen und weitergegeben.
Das Mittagessen wurde beim Hirschenwirt am Stadtplatz eingenommen.
Die Gaststube war immer gut besetzt, vorwiegend von den Sudetendeut-
schen, jenen Hungrigen, die sich keine warme Mahlzeit zubereiten konn-
ten. Mein Langzeitgedächtnis erinnert sich an die weißen, ovalen Teller
mit den Unterteilungen für Knödel, Gemüse und Salat; die große Fläche
war für das Fleisch und die Soße. Heiß wurde das Dampfende gebracht,
nur an meinen kleinen Löffel dachte das fliegende Personal nicht immer,
denn durch ''die „bairischen Schaufeln“ wurden meine Mundwinkel im-
mer wund. „Mei, s Christerl braucht ihr Löfferl!!“ wurde dann in die Kü-
che gerufen - und ich lief durch das ganze Lokal bis zur Durchreiche,
um es mir zu holen, das Löfferl. Willi mochte meine Unerschrockenheit,
denn ich sollte selbstsicher werden, kam ich doch noch in ein paar Wo-
chen in den Kindergarten und bald in die Schule im Herbst.
Der Bekanntenkreis meiner Eltern erweiterte sich zusehends; es wurde
sich der Sudetendeutschen Landsmannschaft anschlossen. Dafür sam-
melte man in den Geschäften für die Kinder, die nach der Weihnachts-
aufführung ''Bescherung'' beschenkt wurden.
Zuerst der Kindergarten. Er ist noch heute in der „Alten Fischergasse
Nr. 8“.
Schwester Ursunella nahm uns liebevoll in ihre Obhut, sie lehrte uns
das friedvolle Miteinander, das Teilen und natürlich das Beten. Mit
meiner liebsten Freundin Mucki, die Jüngste aus der Gaisbauer-Fami-
lie, die in der Türkei verheiratet ist, bin ich immer noch verbunden.
2024: Gestern erst telefonierten wir und erinnerten uns an ihr typisches
Haus an der Donau: Kam man von der Gasse durch die Holzplankentü-
re, befand man sich auf einem winzigen Hof. Von einer Mauerecke zur
anderen war eine Teppichstange befestigt, auf der wir waghalsige Turn-
übungen machten. Die Knie angewinkelt auf der Stange hängend, wieg-
ten wir unsere Köpfe nach unten, so dass die Haare den steinernen Bo-
den berührten. Wenn wir in den Keller gehen mussten, um Kohlen zu
holen, hatten wir schreckliche Angst vor den Ratten, die wir aufschreck-
ten, welche uns ansprangen und uns fast gebissen hätten. Wenn die Do-
nau Hochwasser hatte, wurden die Keller regelmäßig überschwemmt
und mit Nagetieren angereichert, die sich in der anhaltenden Feuchtig-
keit wohlfühlten und vermehrten.
Märchenhaft romantisch war es dagegen am Speicher, wo die Schlafkam-
mern der zahlreichen Kinder abgingen, sonst war der riesige Raum zum
Spielen da. In den Truhen lagerten Theaterkostüme und Requisiten, die
wir uns für die Traumstunden ausborgen durften. Hokuspokus zeigte der
verstaubte Spiegel andere Wesen: Königin, Prinzessin, Engelchen und
Teufelchen. Die großen Buben verzauberten uns Kleine mit Kasperlthe-
ater, improvisierten böse Geschichten mit gutem Ausgang.
Oft schien die Sonne durch das blinde Dachfenster, ließ den Staub tan-
zen und die Spinnweben sichtbar werden. Es war schon etwas Besonde-
res ein Gaisbauer - Kind zur Freundin zu haben. Ich war ein Einzelkind
und gehörte eigentlich als neuntes zu der Theaterfamilie. (Die Zwillinge
Magdalena und Maria waren später Schauspielerinnen am Residenzthe-
ater in München.)
Ich wurde allmählich ein bairisches Mädchen.
Jakob, mein Opa.
Mutti, Willi und ich bekamen zwei Zimmer in der Villa Neissendorfer
zugeteilt, wo wir endlich den Großvater Jakob aus Hessen dazu holen
konnten, denn nach der Aussiedlung fühlte er sich dort, bei der jünge-
ren Tochter nicht wohl. Nicht an Gretl lag es – keinesfalls -, es lag an
der Gegend, denn er vermisste den Böhmerwald und den konnte man
in Vilshofen schon riechen. Während des Krieges, als wir noch in der
Tschechoslowakei in einem Haus miteinander wohnten, nahm ihm das
Schicksalsjahr 1941 seine Frau 51 jährig; ein halbes Jahr danach wurde
meine Mutti mit 22 Jahren Witwe und Hansi, der Verlobte meiner Tante
Gretl, kam auch nicht mehr zurück. In dieser schweren Zeit war ich für
die Trauernden ihr einziges Glück.
1947 war Opa Jakob, mein Fürsorger, mein Vertrauter, nun wieder bei
mir. Er musste mit 33 Jahren in den Großen Krieg ziehen, da hatte er eine
Frau und zwei Mädchen mit sieben und sechs Jahren. Er war Huf - und
Waffenschmied, versorgte die Pferde, reinigte und reparierte die Gewehre
der Kavallerie. Die Garnisonstadt in der Ungarischen Tiefebene hieß Bruck
an der Leitha. Darüber erzählte er mir oft, denn da durfte er seine Frau und
die Töchter nachholen, wo Theresa und Josephine sogar in die österrei-
chisch/ungarische Schule gingen. 1915 wurde der Junge Jakob dort ge-
zeugt, jedoch kam er im Juli 16 in der Heimatstadt Winterberg zur Welt.
Das wollte die Mutter wohl so haben.
Waffenstillstand, November 1918, da kam der Jakob heim zu seiner Frau
Marie. Meine Mutti, im September 1919 geboren, war also ein Kind des
Friedens. 1923, in der Nachkriegszeit, unter der tschechischen Unterdrüc-
kung, kam noch das fünfte Kind, die Margarete. Als die Schmiede 1918
von den Tschechen konfisziert wurde, musste die Familie nach Nordböh-
men ziehen, wo Jakob eine Stelle bei einem tschechischen Gutsherrn als
Heger und Hufschmied bekam. Das Dorf hieß Kradrob, ein Teil von Tep-
litz - Schönau. Das wurde für die Geschwister ein Traum. Dort wuchsen
sie heran, bis die Älteste neunzehnjährig starb und sich ein Trauertuch
über die Familie legte. Diese Schwere erdrückte die Mutter zeitlebens
bis sie die psychische Erkrankung zum Tode führte. Sie starb mit 51 Jah-
ren - zwei Monate nach meiner Geburt 1941.
Vilshofen 1947. Nun war mein Opa wieder bei uns. Er begleitete mich in
den Kindergarten, manchmal in die Schule, er war immer mein Beschüt-
zer; ich liebte ihn abgöttisch. Obwohl er so wortkarg war. Schwermut des
Böhmerwaldes. Wir hatten in der Villa ein gemeinsames Zimmer, das auch
Küche, zugleich unser Schlafzimmer war: Schlafsofa für ihn, Kinderbett
für mich. Das Bettchen stand in einer Nische, jenes brachte mir mein Va-
ter Walter aus Saloniki in einem Militärfahrzeug mit. Ein halbes Jahr spä-
ter versank das Schiff „Ithaka“ mit ihm und 460 Soldaten im Mittelmeer.
Da ich in der Villa keine Kinder empfangen durfte und sich auch kaum
ein Kindchen über den langen Kiesweg durch den Park traute, verbrachte
ich meine Freizeit in freier Natur beim Pfeffer Sepp. Das waren: ein Bau-
ernhof, Tiere, ein Wald, der Galgenberg, die Wolfach, ein Steinbruch,
Wiesen, Teiche und das Sägewerk: Kreissägen den ganzen Arbeitstag,
Loren mit Baumstämmen, Brettertürme und Freiheit, viel Freiheit für uns
Kinder. Nie was passiert.
Nur in der Adventszeit durften Kinder in die Villa kommen, das erlaubte
„der Neissendorfer.“ Mutti schrieb jedes Jahr kleine Dreiakter, die entwe-
der im Kindergarten oder im Schweiklberger- Kloster aufgeführt wurden.
Endlich waren Kinder in unserer „Künstlerwerkstatt!“ HALT!!! Vorsich-
tig mit dem Parkett-Fußboden: Schuhe hinter der Haustüre ausziehen, nur
mit Socken eintreten!!! Die Filzpantoffeln, waren viel zu groß für die
kleinen Fußerl. Lange zuvor sammelten wir schon Papier, weil es kaum
eins gab. Da Mutti „Ernte 23“ rauchte, wurde das Silberpapier für die En-
gelflügel gesammelt. Jedes Strasssteinchen, jeder Knopf, jede Perle, jedes
bunte Glas wurde für die Bekleidung auf der Bühne aufgehoben. Da wurde
geschnitten, geklebt, geschneidert, aufgetrennt, gelernt, geprobt, geplap-
pert, gestritten und versöhnt. Von Mutti waren die Geschichten, von Willi
das Drehbuch. Eher war es ein Heftchen mit reingeschriebenen Texten,
durchgestrichenen Zeilen, Randbemerkungen und Szenendarstellungen.
An einen Dreiakter kann ich mich noch gut erinnern; er behandelte ein
Heimkehrer-Schicksal; drei, vier Jahre nach dem Krieg noch nahe Rea-
lität.
War der aufregende Abend endlich gekommen, musste ich vor dem
Theatervorhang meistens den längsten Text aufsagen: „Die Himmli-
sche Botschaft.“ Auf dem weißen Leintuch, das auf meine Winzigkeit
drapiert wurde, waren Papiersternchen geheftet; meinen Kopf schmück-
te ein goldenes Stirnband mit einem Stern drauf. Natürlich musste ich
nur Ausschnitte aus der Botschaft aufsagen, aber es hat anscheinend ge-
klappt mit den Engeln, denn das Publikum war begeistert. Nach der The-
ateraufführung gab es die ersehnten Geschenke für die Sudetendeutschen
Kinder. Der Weihnachtsmann verteilte Kleider, Strickjacken, Schals,
Handschuhe, Spielsachen, Papier, Bleistifte und Malkästen, auch Schul-
ranzen waren dabei. Mutti hatte großen Anteil an den Spenden, die sie
mit ihrem Charme erbettelte. Sie hatte von vornherein einen guten Ruf,
schrieb sie doch auch alle Bittgesuche für die Landsmannschaft!
Stadtpfarrer Dr. Dr. Carl Böckl, oder die katholische Askese.
Unter ihm hatten wir nichts zu lachen gehabt. Er war autoritär, fordernd,
drohend, anklagend, cholerisch. Er war humorlos und hart; seine starren
Ansichten gehörten ins katholische Mittelalter zur Inquisition. Wir hatten
ihn auch im Religionsunterricht, mussten zweimal in der Woche beichten,
Buße leisten, kommunizieren und der Sonntagsmesse beiwohnen natür-
lich. Von der Kanzel ließ er bittere Anklagen auf seine Schäfchen nieder,
so dass sich jeder für nix und wieder nix schuldig fühlen musste. Seine
Aussprache war feucht; man konnte die Berieselung sehen oder spüren,
wenn man unter der Kanzel saß. Die lässlichen und die Todsünden redete
er uns so ins Gewissen, dass man nichts ausließ, wenn man reumütig im
Beichtstuhl kniete. Waren wir doch erleichtert, wenn er uns Buße aufgab,
damit die schwarzen Flecken endlich von der Seele verschwinden konn-
ten! Doch welche Flecken? Wir waren noch so unschuldig. Einmal war
ich froh, „d i e Sünde überhaupt“ beichten zu können - endlich eine Un-
tugend. Ich hatte irgendwo in irgendeinem Heftchen unbekleidete Men-
schen abgebildet gesehen. Also ganz nackte!!! Endlich konnte ich das
sechste Gebot erwähnen: “Sechstes Gebot Gebet: Ich habe Unkeuschheit
getrieben“. Nun war es raus. „Wo?“ fragte der Stadtpfarrer entsetzt und
drückte sein Ohr noch näher an das Holzgitter. „Im Heft“ presste ich he-
raus. Die Buße war gesalzen. Wo doch die Sittlichkeit über alles gestellt
wurde. Meist konnte ich in der Kirche nicht so lange büßen, weil ich ei-
nen langen Heimweg hatte. So nahm ich den größten Teil über die Vils-
brücke in die Ortenburger Straße nach Hause. So geschah es einmal,
dass ich auf das „Griasti Christerl“, einer Bekannten mit: „Gegrüßet
seist du Maria“ antwortete. Das sprach sich herum.
Willi ging diese Bigotterei auf die Nerven; er stritt sich einmal auf dem
Schulgang dermaßen mit dem Pfarrer, dass ich mich schämte und in
den Boden versinken wollte. Es ging um den heiligen Sebastian, einem
Märtyrer, dessen Gipsfigur mit Pfeilen in der Brust auf Prozessionen
getragen wurde; die Kinder im Bittgesang hinterher. Das war Willi zu
viel. Er ließ sein Mädchen nicht mehr mitlaufen, was die Religionsnote
verschlechterte.
Spruchkammer in München: Vergangenheitsbewältigung.
Willi suchte, wie jeder Mann ohne Einkommen, eine Arbeit. Alles hätte
er angenommen, so wurde er zunächst als Statistiker in Regensburg an-
genommen, was immer das bedeutete. Schließlich bekam er einen Auf-
trag, als Vorsitzender für die Spruchkammer in München, zu fungieren.
Die Alliierten, die Amerikaner, riefen die sogenannten Spruchkammern
ins Leben, um die Deutschen auf ihre politische Gesinnung zu überprü-
fen: Hauptschuldige, Mitbelastete, Mitläufer. Entlastete, Belastete. Da
gab es Berufsverbote, Entlassungen, die später wieder zurückgenommen
werden mussten, da es keine Männer für die Ämter gab. 4,7 Millionen
gefallene Soldaten.
Von 1947 bis Anfang der Fünfziger fuhr Willi von Vilshofen nach Mün-
chen hin und her. Dafür bekam er einen Mercedes- Dienstwagen, das war
schon ein Aufsehen, denn kein Privatmann fuhr ein Auto. Mutti war be-
liebt, Willi gefürchtet. Mehrere Male waren die Reifen des Autos zersto-
chen. Alles erwies sich als Schein. Die Eltern auf Pressebällen, politischen
Veranstaltungen mit Kommunalpolitikern in München und Passau, doch
nach der Entnazifizierung keine Anstellung bei der Stadt Vilshofen. Willi
machte eine Staatsprüfung und ging nach Bonn. Die Ehe scheiterte. Mutti
und ich zogen nach Lauf/Pegnitz zum Bruder und Großvater Jakob, der
mein Vormund wurde. Da war er wieder „mein Jakob“, der schon ein Jahr
vorher zu seinem Sohn zog, weil das Häuschen, das „der Neissendorfer“-
um die Flüchtlinge nach fünf Jahren los zu werden baute, für Opa zu
klamm war. Nun wurde das niederbairische zwölfjährige Mädchen eine
Fränkin. Immer noch eine Bayerin, jedoch war dort alles anders. Protes-
tantisch. Keine Beichten mehr, keine Schuldgefühle. Keine?
Doch, sie nahm schon einiges mit von den Grundsätzen der katholischen
Erziehung: Resistenz in schwierigen Zeiten, Treue, Streiten, Verzeihen,
Fehler eingestehen. Nächstenliebe.
Mutti heiratete ein drittes Mal, sie war 3o Jahre in Holstein mit Hans ver-
bunden. Die Hochzeit kam zustande, als ich nach 1963 Hamburg ging, sie
mich besuchte und den Großcousin meines Freundes kennenlernte.
1964 heiratete ich den in Hamburg geborenen Hermann, dem meine Liebe
6o Jahre lang galt.
„ Meine geliebte Mutti, nun waren wir in Schleswig Holstein. Haus an
Haus in der Hamburger Straße. Unsere Seelen, wie unsere Hände von da-
mals, waren immer ineinander verschlungen. Ich wurde hier glücklich,
DU nicht. Du bliebst eine halbe Böhmin, konntest deine Mentalität mit
den Holsteinern nicht in Einklang bringen. Nach Vatis Tod nahmen wir
dich in unser Haus. Im Krankenbett hast du manchmal noch die Tsche-
chische Hymne gesungen und den Pflegerinnen vom Tschechischen
Theater erzählt.“
Sbohem, mà drahá maminko.
Adieu, meine liebe Mami.
Worte & Bild: (c) Christine Biermann
Vilshofen, 1950
April, 1945: aus Angst vor den Russen sprengen Vilshofener Bürger die Brücke
zum östlichen Zugang der Stadt
Der Badeplatz.
„Wo der Donau breiter Lauf die dunkle Flut der Vils nimmt auf.“
Ein paar hundert Meter von der Flussmündung entfernt, ist das Freibad.
Früher hieß es das „Neue Bad“, und statt Betonbauten gab es nur ein
Holzhäuschen und eine Reihe aneinander liegende Umkleidekabinen
auf dem Platz. Im Sommer war die Wiese ein Deckenfleckerlteppich,
denn halb Vilshofen versammelte sich dort. Ganz naturbelassen zog
sich das Gelände vom - freien Eintritt - entlang der Vils hin, wo es
links von einem Schienenhügel begrenzt war; wo noch ab und zu ein
Züglein nach Aidenbach fuhr.
Von der Stadt kommend führte der Weg über die Fischerzeile oder den
Wittelsbacher Ring. Bevor man am Bad angelangte, hörte man übermü-
tiges Kindergeschrei und die Hinzugekommenen freuten sich schon auf
das kühle Nass der moorhaltigen Vils. Besonders wir Kinder, denn wenn
wir im Juli noch immer keine Ferien hatten und es auf den Schulbänken
nicht mehr auszuhalten war, warteten wir auf das erlösende „Hitzefrei“.
30 Grad sollten es werden, erst dann ließ uns die Lehrerin „das Fräulein“,
wie wir sagen mussten, davonrennen.
Während der großen Ferien war es schöner, da konnten wir den Badetag
von morgens bis abends ausnutzen, wenn es der liebe Gott gut mit dem
Wetter meinte. Im Korb ein paar trockene Semmerl, ein Joghurtglaserl
mit dem Pappverschluss drauf, Brausepulver und ein paar Zehnerl.
Man erlaube mir die bairischen kindlichen Ausdrücke.Die Zehnerl wa-
ren für die Plattner Inge, die den Kiosk führte. Sie pappte uns immer
die Eiskugeln auf die Waffeltüte und glücklich liefen wir wieder zu
den anderen. Mutti und ich lagen immer unter dem Bahnhügel. Man
zog sich in den Kabinen um, wo mancher Jüngling durch die Holzlö-
cher, oder über die Bretter, drüber, spähte. Wenn meine Mutti ihren
Badeanzug anzog, gab es diese frechen Einblicke oft.
Üppig mit Öl eingerieben, wurde sich erst einmal ausgiebig gesonnt
Für Mutti war die Bräune wichtig, denn, wer „diesen Sommer“ wieder
als Badeschönheit im Gerede war, hatte gewonnen. Noch eine Schöne
und Mutti standen zu dieser Zeit immer im Focus des Interesses.
Wenn Mutti über die Wiese tänzelte, schauten ihr alle nach. Sie nahm
immer denselben Eingang am Ufer, wo sie im Seichten stets dieselben
Bahnen abschwamm, und sogar den Bademeister täuschte, denn sie
konnte gar nicht schwimmen. Die Zehen vom sicheren Grund nicht
ablassend, die Arme kreisend, kam sie vorwärts und niemand merkte
etwas von diesem Schwindel.
Das lauteste Geschrei kam vom Floß. Diese Holzinsel auf der Vils war
das beliebte Anschwimmziel der Jugendlichen. Hatte man sie endlich
erreicht und sich kurzatmig auf die Fläche gehievt, wurden die braven
Mädchen von den bösen Buben wieder in`s Nass geschupst oder das
Floß bekam durch die unausgewogene Personenverteilung Schlagseite,
so dass die Schreienden zuhauf ins Wasser fielen, wieder fast atemlos
auftauchten, um sich erneut auf die Bretter zu retten.
Ebenso passig ging es am Balken zu. Das war ein geschälter Baumstamm,
der uns viel Ausgelassenheit bescherte. Ging die Personenschwerkraft un-
ter, ragte das andere Ende in die Höhe, welches die Leichtgewichte brül-
lend abwarf. Ehe das abgetauchte Bündel wieder auftauchen konnte,
musste der Atem lange angehalten werden. Sehr früh lernte ich das
Schwimmen, hatte deshalb keine Angst vor dem Balken. Eher vor dem
Dreimeter-Sprungbrett, denn wenn es am Ende zum Zittern anfing, be-
kam ich`s mit der Angst und lief wieder zurück, bis mir der Bademeister
einmal die Flucht versperrte und mit mir eine A- Bombe machte. Sorry.
Vater Willi kam am Spätnachmittag, wenn die Sonne tiefer stand; er litt
unter chronischen Kopfschmerzen. Meist mit einem kurzärmeligen Hemd
und einer langen Hose, kam beim Entkleiden dieser Sachen der blasse Ba-
dehosentyp: „Marke Stubenhocker“ zum Vorschein. Ich hänselte ihn mit
den Worten: „Abgebrannt wie ein Kalkeimer“. Ein bisschen genierte ich
mich wegen seines unsportlichen Aussehens, waren wir doch stets tief
braun, wofür ich Mutti auf der Decke x-Mal mit dem Nussöl nachölte,
um die Farbe zu intensivieren.
So wie die Zeit uns hat alt werden lassen, so hat sich das Bild der einsti-
gen Badewiese verändert, man erkennt sie nicht mehr. Die luftigen Flä-
chen sind betongestylt worden - doch Fortschritt muss sein und der Mo-
derne Mensch kann sich in sportlichen Hallen auf das Gründlichste fit
machen. Und wer nicht in der Vils baden will, kann das in den Bassins
tun.
Eine Karte zeigt das moderne Bad - und als ich näher hinschaute, sah
ich einen Balken.
Ich hab mich wahnsinnig gefreut. Daraufhin ist mir dann auch diese Er-
zählung eingefallen.
Erzählung & Foto: © Christine Biermann
Alter Badeplatz, 1950
Klassenfahrt in den Bayrischen Wald.
Im Sommer 1953, während der großen Ferien fuhren zwei Autobusse
über die Donaubrücke, um nach rechts in den Bayrischen Wald abzu-
biegen. Drinnen herrschte Frohsinn und Übermut. In den Gängen häuf-
ten sich Rucksäcke, Umhängetaschen und Turnbeutel. Der Reiseprovi-
ant wurde schon vorzeitig angebrochen und verzehrt. Irgendwann trenn-
ten sich die Busse in verschiedene Richtungen. Da die Schüleranzahl sehr
groß war, musste sie in zwei Gruppen aufgeteilt werden; die eine kam auf
die Salden - die andere - auf die Englburg.
Wir erreichten das Schloss am frühen Nachmittag. Die Englischen Fräu-
lein warteten schon im Innenhof und geboten unserer Ausgelassenheit
Einhalt. Wir wurden in zwei großen Räumen mit schlichten Betten unter-
gebracht; das dritte Zimmer bekamen die Lehrerinnen. Wir hingen so-
gleich an den Doppelfenstern, wie man sie damals hatte, und nahmen
den Wald mit Fichten, Buchen, Tannen, Bergahorn, Linden wahr.
Gewaschen, gekämmt; der Heiligkeit damit Genüge getan, stiegen wir
früh morgens - noch vor dem Frühstück - über die Treppe mit dem
schmiedeeisernen Geländer zum Andachtszimmer hinauf, um zu beten.
Die größte Freude war der Ausflug zur Saldenburg. Wir marschierten
zwei Stunden durch den Wald; durch jenen Urwald, der uns ausgelassene
Bewegungsfreiheit gab und die Lungen mit würzigem Sauerstoff versorg-
te. Die Waden zerkratzt vom Dickicht der Sträucher und Disteln, die San-
dalen, Kniestrümpfe und Söckchen vom sumpfigen, feuchten Moos und
dem taubehangenen Farn nass geworden, so stapften wir uns bis zur
„Waldlaterne“ durch, wo wir von unseren Freundinnen schreiend erwartet
wurden. Wenn sich am Spätnachmittag das Licht in den Bäumen brach,
der verwunschene Wald nach und nach dunkler wurde, befanden wir uns
auf dem Rückweg. Dann nahmen die entwurzelten Bäume, Geäste und
die steinernen Findlinge Gestalt an - und man glaubte in der verwitterten
Schöpfung Gnome zu erkennen.
Dichtung oder Wahrheit?
Vor dem Schloss stand eine Linde. Unter jener versammelten wir uns nach
dem Abendmahl zum Singen. „Und wieder blühet die Linde- „Dona nobis
pazem“ - „Abendstille überall“
Und die milden Lüfte trugen unsere Stimmchen in die Dämmerung hinaus.
Erzählung & Foto: © Christine Biermann